St. Pölten ist das neue Wien #
Seit dreißig Jahren – genau: seit dem 10. Juli 1986 – hat Niederösterreich eine eigene Landeshauptstadt. Der Weg dahin war lang und verschlungen und hat letztendlich zu einer neuen Struktur und Identität des Landes geführt. #
Von
Stefan Eminger
Aus der Zeitschrift morgen 4/2016
Alles begann mit dem Trennungsgesetz am 29. Dezember 1921. Es trat am 1. Jänner 1922 in Kraft, und von diesem Tag an waren Wien und Niederösterreich zwei selbstständige Bundesländer. Das größte Bundesland Österreichs verlor dadurch seine Hauptstadt, wenn auch Landesregierung und Landesverwaltung in Wien verblieben. Vierundsechzig Jahre sollte es dauern, bis Niederösterreich wieder eine Hauptstadt erhielt.
Das Trennungsgesetz löste eine jahrhundertelange Einheit. Gesellschaftlich und parteipolitisch herrschten nun zwar klare Verhältnisse. „Schwarzes“ Land und „rote“ Stadt lautete ein Ergebnis der Trennung, für die sich die Christlichsozialen in Niederösterreich und die Sozialdemokraten in Wien starkgemacht hatten. Der Preis dafür war beträchtlich. Wirtschaftlich wurde Niederösterreich ärmer. Das Land verlor seinen steuerkräftigsten Anteil. Durch das Fehlen einer Hauptstadt entgingen ihm überdies finanzielle Mittel, und immer wieder wurde damit auch das schwach ausgebildete Landesbewusstsein in Verbindung gebracht.
Hauptstadtinitiative 1951. #
Für den deutschnationalen Landtagsabgeordneten Otto Lutz war Wien gar die einzige Klammer des so vielfältigen Landes gewesen. In der letzten Sitzung des gemeinsamen Landtages am 29. Dezember 1921 führte er aus: „Denn die Gemeinsamkeit, die diese vier Viertel des Landes haben, haben sie nur mit und durch Wien. Wien ist das Herz dieses Landes, und wenn Sie auch dieses Herz herauszureißen versuchen, so bleibt es doch. Sie können es nicht verhindern. Sie können nicht einmal in Ihrem eigenen Lande eine Hauptstadt suchen, weil Sie eben keine haben.“
Lange Zeit schien es so, als würde der Abgeordnete Lutz recht behalten. Auch die Nationalsozialisten mit ihrem radikalen Veränderungsanspruch änderten daran nichts. Die Kür der NS-Hochburg Krems zur Gauhauptstadt am 18. Juli 1938 blieb ein Formalakt. Die Umsetzung der groß propagierten Ausbauplanungen und die Verlegung der niederösterreichischen Gauverwaltung aus Wien wurden durch den bald vom Zaun gebrochenen Krieg vereitelt.
Nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft brachte der St. Pöltner Bürgermeister Wilhelm Steingötter (SPÖ) 1951 das Thema der Landeshauptmannschaft im Landtag zur Sprache. Wie schon in der Zwischenkriegszeit vielfach beklagt, machte auch er das Fehlen einer eigenen Hauptstadt für die wirtschaftlichen Probleme des Landes mitverantwortlich. Steingötter bedauerte die Trennung von Wien und bezeichnete sie als „historischen Fehler“. Er sprach sich aber als erster Landespolitiker für eine eigene Landeshauptstadt aus – natürlich für St. Pölten. Postwendend kam Widerspruch – von Johann Zach (ÖVP), späterer Vizebürgermeister in Wiener Neustadt.
Kaum jemand in der Landespolitik hielt das Projekt einer Landeshauptstadt damals für realistisch. Der Schwerpunkt der Diskussion lag auf der Forderung nach einer Ausgleichszahlung für die fehlende Hauptstadt. Dieses Äquivalent wurde 1954 mit 600 Millionen Schilling – das war mehr als das gesamte damalige Landesbudget – beziffert. Die Erfüllung solcher Wünsche blieb eine Illusion.
Die Zunahme der Aufgaben der Landesverwaltung erforderte weitere Räumlichkeiten. Im Auftrag der Landesregierung prüften Raumplaner 1955 die Möglichkeiten einer Verlegung der Landesbehörden von Wien nach Mödling oder Klosterneuburg. Dabei wurde zwar die Region Krems-St. Pölten als entwicklungsfähiger Zentralraum bezeichnet, eine Übersiedlung aus Wien aber nicht als praktikabel erachtet.
Hauptstadt vs. Verwaltungssitz. #
Beim ÖVP-Landesparteitag in Tulln 1970 setzte Landeshauptmann Andreas Maurer neue Impulse in der Hauptstadtfrage. Er sprach sich für eine eigene Hauptstadt aus. Sein Stellvertreter Hans Czettel (SPÖ) winkte jedoch ab. Dennoch wurde die Raumplanung mit Gutachten beauftragt. Die Expertisen mündeten in eine „große Lösung“, die eine Landeshauptstadt im Raum Krems-St. Pölten vorsah, und in „kleine Lösungen“, welche die Errichtung eines bloßen Verwaltungssitzes im Umland von Wien – etwa in Klosterneuburg, Korneuburg oder in der Südstadt bei Mödling – projektierten. Das vorläufige Ende der Hauptstadtdiskussion markierte eine repräsentative Umfrage des Fessel-Instituts Mitte der 1970er Jahre. Sie ergab lediglich 20 Prozent Zustimmung für eine Landeshauptstadt.
Am Rande einer routinemäßigen Pressekonferenz am 15. Februar 1984 passierte es dann. Landeshauptmann Siegfried Ludwig unternahm einen überraschenden Vorstoß in Richtung Landeshauptstadt und ließ keinen Zweifel daran, dass er eine „große Lösung“ wünschte: eine „vollständige Hauptstadt“ und nicht nur die Verlegung von Regierung und Verwaltung aus Wien in eine niederösterreichische Stadt.
Eine Vielzahl an Bedenken und Widerständen war zu überwinden. Die Frontlinien verliefen teils auch quer durch die beiden Regierungsparteien. So ein Projekt sei zu teuer, lautete etwa das Hauptargument von Landeshauptmann- Stellvertreter Leopold Grünzweig (SPÖ), während die SP-Bürgermeister jener Gemeinden, die sich berechtigte Chancen auf eine Erhebung zur Landeshauptstadt ausrechnen konnten, dem Vorschlag durchaus Interesse entgegenbrachten. Andererseits standen Teile der ÖVP und wichtige Medien des Landes der Initiative anfangs skeptisch bis abwartend gegenüber. Der einflussreiche Niederösterreichische Bauernbund etwa hielt sich merklich zurück; ebenso die „Niederösterreichischen Nachrichten“, die sich in der Vergangenheit wiederholt für eine eigene Landeshauptstadt starkgemacht hatten.
Den Ausschlag für die Realisierung der Hauptstadtidee gaben vor allem zwei Aspekte. Zum einen war es die Verknüpfung mit einem großzügigen Regionalförderungskonzept. Dieses Regionalisierungsprogramm war vor allem Grünzweigs Nachfolger als Landeshauptmann- Stellvertreter, Ernst Höger, ein Anliegen. Es sah für die nächsten zwanzig Jahre je 500 Millionen Schilling zusätzliche Fördermittel für regionale und kommunale Projekte vor und minderte auch die Bedenken vieler Gemeinden, die eine Konzentrierung von Landesgeldern auf die künftige Hauptstadt befürchteten. Zum anderen war das Finanzierungskonzept schlüssig. Die Gelder für den Hauptstadtbau sollten durch den Verkauf von Gebäuden und Liegenschaften des Landes in Wien sowie durch eine Teilprivatisierung der ehemaligen Newag/Niogas aufgebracht werden. Der erfolgreiche Börsegang der nunmehrigen Energieversorgung Niederösterreich AG (EVN AG) erfolgte 1989. Das Land Niederösterreich behielt sich dabei 51 Prozent der Aktien vor. Weit weniger Aufmerksamkeit wurde dem dritten Baustein des Landeshauptstadt-Konzeptes zuteil. Es war die Dezentralisierung der Landesverwaltung durch eine Aufwertung der Bezirkshauptmannschaften.
In der Zwischenzeit hatte das beauftragte Österreichische Institut für Raumplanung eine positive Stellungnahme abgegeben. Von den neun Städten, die sich als Standort beworben hatten, wurden Herzogenburg, Klosterneuburg, Laxenburg und Mödling bald ausgeschieden. Zur Wahl standen nun die „schwarz“ verwalteten Städte Baden, Krems und Tulln sowie die „roten“ Hochburgen St. Pölten und (damals noch) Wiener Neustadt. Die Bevölkerung sollte entscheiden.
Projekt Vatikanlösung. #
Für 1. und 2. März 1986 wurde eine Volksbefragung anberaumt. Drei Wochen davor versuchte der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk noch gegenzusteuern und bot dem Land Niederösterreich eine „Vatikanlösung“ an; ein exterritoriales Areal in der Wiener Innenstadt. SP-Landesobmann Höger war dafür, Landeshauptmann Ludwig dagegen. Die Befragung fand statt und ergab bei einer erstaunlich hohen Beteiligung von 61,4 Prozent eine Zustimmung von 56 Prozent für eine Landeshauptstadt. 25 Prozent aller gültigen Stimmen entfielen auf St. Pölten, 16,4 Prozent auf Krems. Alle übrigen Bewerberinnen blieben unter fünf Prozent der Stimmen.
Die Landespolitik schloss sich der Entscheidung der Bürger an. Am 10. Juli 1986 wurde die notwendige Änderung der Landesverfassung einstimmig beschlossen. St. Pölten war Landeshauptstadt.
Mit viel Elan machte sich die Stadtregierung an ein neues Stadtentwicklungskonzept, an einen Generalverkehrsplan, an Grün- und Naturraumkonzepte. Die erwarteten Stimulierungseffekte waren aber nicht sofort und nicht überall spürbar; im Gegenteil: Bis 1991 sank die Bevölkerung leicht ab, 2001 fiel sie sogar unter die für den Finanzausgleich relevante Schwelle von 50.000. Dazu kam die Enttäuschung, dass der Kern der späteren „Donau-Universität“ 1988 nicht in der neuen Landeshauptstadt, sondern in Krems gebildet wurde.
Spätestens im neuen Jahrtausend griffen die Ausbaupläne. Bis 2015 stieg die Bevölkerungszahl auf fast 53.000 an. Die Verschiebung des Verhältnisses von Aus- und Einpendlern verwies auf den gewachsenen Zentralitätsgrad der Region. Etwa 5.000 Auspendlern standen 20.000 tägliche Einpendler gegenüber. Die Anzahl der aktiven Betriebsstandorte in der Stadt nahm weiter zu; die Zahl der unselbstständig Beschäftigten stieg von 31.000 im Jahr 1991 auf 42.000 im Jahr 2006.
Trotz des Rückschlages in der Frage der Universität konnte St. Pölten seinen Status als Schulstadt ausbauen. 1993 wurde die Basis für die spätere Fachhochschule St. Pölten gelegt. Derzeit ermöglicht das Institut 2.600 Studierenden eine Hochschulausbildung in Technik, Informatik, Gesundheit, Medien, Wirtschaft und Soziales. 2004 wurde die New Design University gegründet. Als Privatuniversität bieten sie Bachelor- und Masterstudienlehrgänge sowie akademische Lehrgänge in den Bereichen Gestaltung, Technik und Business an. Die Akzeptanz St. Pöltens als Landeshauptstadt war deutlich gestiegen. Von Kritikern einst als „Brasilia von Niederösterreich“ verunglimpft, war St. Pölten laut Umfragedaten von 2005 für zwei Drittel der in Niederösterreich Befragten eine „würdige“, nur für neun Prozent „keine würdige“ Hauptstadt.
In ökonomischer Hinsicht zog das Österreichische Institut für Raumplanung 1996 eine Bilanz der Effekte der Hauptstadtgründung auf das Land. Demzufolge hätten bauliche Investitionen von 14 Milliarden Schilling Bauleistungen im Wert von mehr als 21 Milliarden Schilling stimuliert. Die Zahl der Arbeitslosen im niederösterreichischen Zentralraum sei dadurch um zehn Prozent gesunken. Sehr hoch eingeschätzt wurden auch die Effekte der Hauptstadtgründung auf die öffentlichen Haushalte. Allein die baulichen Maßnahmen sollen die Budgets um insgesamt fünf Milliarden Schilling entlastet haben. Der Großteil der Produktionseffekte sei im Land Niederösterreich geblieben.Auswirkungen hatte die Gründung der Landeshauptstadt zudem auf die geografische Gliederung des Landes. Zu den vier Vierteln des Landes trat nun eine fünfte Hauptregion mit Krems-St. Pölten als Zentrum. Sie umfasst etwa 100 Gemeinden mit 330.000 Einwohnern und heißt Niederösterreich-Mitte. Diese neue Region erstreckt sich vom Wiener Stadtrand im Osten bis zur Wachau im Westen und von Krems im Norden bis zur steirischen Landesgrenze im Süden.
Stefan Eminger ist Leiter des Referats Zeitgeschichte im Niederösterreichischen Landesarchiv