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Hans Kelsen (1881-1973)#


Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus dem Buch: Große Österreicher. Thomas Chorherr (Hg). Verlag Carl Ueberreuter, Wien. 1985.


Daß es im Leben, auch in einem Leben, das sich im wesentlichen unter Männern der Wissenschaft abspielt, vor allem auf den moralischen Charakter des Menschen ankommt, daß Wahrheitsliebe, Selbsterkenntnis, Duldsamkeit, der Wille, niemandem unrecht zu tun, den eigenen Geltungstrieb soweit als möglich zu kontrollieren, nicht weniger wichtig sind als gegenständliches Wissen und daß diese Charaktereigenschaften auch Einfluß auf die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit haben« - diese moralischen, sittlichen oder, wenn man will, charakterlichen Richtlinien hat Hans Kelsen im späten Alter sich selbst und seinen Kollegen im Reich der Wissenschaft vorgegeben. Dies waren keine Wunschvorstellungen, sondern Erfahrungswerte gewesen, die der große Rechtslehrer als Norm festgeschrieben hat.

Hans Kelsen hat sich sein Leben lang an das gehalten, was er viel später, in der Emigration, zu Papier gebracht hat: er hat immer die Moral in der Wissenschaft gesucht, er ist stets von dem Willen getrieben gewesen, »niemandem unrecht zu tun« - als Rechtslehrer hat er sich dazu verpflichtet gesehen.

Ein Widerspruch zur »Reinen Rechtslehre«, die Hans Kelsen geschaffen hat, zu jener oft mißverstandenen Weiterentwicklung des sogenannten Rechtspositivismus, dessen Inhalt sich in einem Satz zusammenpressen läßt: Recht ist, was der Gesetzgeber zu Recht erklärt? Ganz im Gegenteil: Kelsens Lehre versucht gerade, die Rechtswissenschaft von soziologischen, ideologischen, psychologischen und politischen Elementen zu befreien; zum Unterschied vom historischen, älteren Rechtspositivismus vertrat Kelsen den kritischen. Die sogenannte rechtstheoretische Wiener Schule, deren Begründer und Hauptvertreter Hans Kelsen gewesen ist, wollte, wie Kelsen selbst formulierte, die Jurisprudenz »auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geisteswissenschaft« heben, sie versuche, schrieb Kelsen, ihre »ausschließlich auf Erkenntnis des Rechts gerichteten Tendenzen zu entfalten und deren Ergebnisse dem Ideal aller Wissenschaft, Objektivität und Exaktheit, soweit wie möglich anzunähern«. Hans Kelsen - meint der österreichische Staatsrechtslehrer Robert Walter schloß sich deshalb - »obgleich politisch keineswegs ohne eigenen Standpunkt - keiner politischen Richtung an; er hatte also - wie seine Haltung zeigt - seine wissenschaftliche Position auch zu seiner Weltanschauung gemacht«.

Kelsen sei der Sozialdemokratie nahegestanden, heißt es. Man schließt dies nicht zuletzt daraus, daß Staatskanzler Karl Renner den Universitätsprofessor zur Neuschaffung der österreichischen Bundesverfassung heranzog. Aber Renner tat dies nicht, weil Kelsen Sozialist gewesen sein könnte. Vielmehr war er schon damals, wiewohl noch überaus jung an Jahren, allgemein anerkannter Staatsrechtler, Universitätsprofessor in Wien - und war auch Otto Bauer aufgefallen; als Experte, nicht als Ideologe, als Wissenschaftler, nicht als Politiker. Der Wissenschaft hat sich Hans Kelsen seit seiner Jugend verpflichtet gefühlt. Der Sohn jüdischer Eltern wurde in Prag geboren, kam aber schon als Kind nach Wien und maturierte am Akademischen Gymnasium, einer Brutstätte österreichischer Intellektueller. Er studierte Jus und habilitierte sich 1911 mit einer Schrift über »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre«. Zum Kriegsdienst eingezogen, arbeitete Kelsen, damals Hauptmann, kurz vor dem Zusammenbruch der Monarchie, bereits im Auftrag des Kriegsministers an einer Verfassungsreform - die freilich infolge der historischen Ereignisse nicht mehr realisiert werden konnte.

1919 wurde Hans Kelsen dann als Ordinarius an die Universität berufen - und in dieser Funktion erhielt er den Auftrag, an der Schaffung einer Verfassung für den jungen republikanischen Staat »Deutschösterreich« mitzuwirken.

Koordinator der vorbereitenden Arbeiten war Staatssekretär Dr. Michael Mayr, dem die politische Aufgabe zufiel, die Wünsche der früheren Kronländer und ihrer Spitzenfunktionäre, die bisweilen diametral entgegengesetzt waren, unter einen Hut zu bringen, eine gemeinsame Linie herauszuarbeiten und die von Kelsen ausgearbeiteten verschiedenen Entwurfsvarianten zu adjustieren. Die Arbeiten zogen sich von der Jahresmitte 1919 bis in den Spätherbst.

Hans Kelsen, der Staatsrechtler, hat damals bei seinen Verfassungsentwürfen auch auf die wichtigsten Elemente der alten Konstitution zurückgegriffen; er wollte nicht etwas absolut Neues schaffen, sondern erhalten, was ihm brauchbar schien. Neu freilich war die Schaffung eines Verfassungsgerichtshofs, der zwar dem einstigen Reichsgericht ähnelte, aber viel umfassendere Kompetenzen erhielt. Nicht zuletzt diese Einrichtung, die später für viele andere Staaten beispielgebend wurde, hat den Namen Kelsen als der eines international anerkannten Staats- und Verfassungsrechtsexperten geprägt. Und nicht zuletzt Kelsen ist es zu verdanken, daß der Übergang von der Monarchie zur Republik Österreich auf rechtlichem Gebiet reibungslos vor sich gegangen ist. Ihm wird auch die Prägung des Begriffs »legale Revolution« zugeschrieben.

In den ersten zehn Jahren war Hans Kelsen selbst Mitglied des von ihm geschaffenen Verfassungsgerichts, bis 1930 auch Rechtsberater der Bundesregierung. Dann nahm er - von Fakultätsintrigen in Wien, aber auch von politischen Angriffen angeekelt, einen Ruf nach Köln an, ging 1933 nach Genfund schließlich 1940 in die USA, wo er bis in sein hohes Alter lehrte.

Seinen Lebensabend hat Kelsen in Berkeley in Kalifornien verbracht, hochverehrt von seinen Schülern in aller Welt, geehrt aber auch von dem Staat, dessen rechtliche Basis, die Verfassung, er gestaltet hat. Das Hans-Kelsen-Institut, errichtet von der Republik Österreich, ist dem Mann gewidmet, den der amerikanische Historiker Gulick »den wahrscheinlich hervorragendsten Rechtswissenschaftler Europas« nannte.


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