Hans Kelsen und die "Reine Rechtslehre" #
von Robert Walter
in: Das geistige Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1980
(Ringvorlesung unter Leitung von Prof. Dr. Norbert Leser)
Hans Kelsen war ein typischer Wiener. Zunächst seiner Herkunft nach: Kelsens Vater stammte aus einer jüdischen Familie, die in Brody, einem Ort des ehemaligen österreichischen Galizien, beheimatet war. Von dort wanderte er zunächst nach Prag aus, wo er sich verehelichte und wo ihm am 11. Oktober 1881 als erstes Kind Hans Kelsen geboren wurde. Schon drei Jahre später übersiedelte die - deutschsprachige - Familie Kelsen nach Wien; hier besuchte Hans Kelsen die Volksschule und - als durchaus mittelmäßiger Schüler - das Akademische Gymnasium; seine Interessen galten damals insbesondere der Philosophie und Mathematik sowie der Literatur. Nach seiner Matura absolvierte er seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger und wandte sich dann - eher aus Vernunft als aus Neigung - dem juristischen Studium an der Wiener Fakultät zu. Dort beeindruckten ihn im besonderen die rechtsphilosophischen Vorlesungen von Leo Strisower und jene des Staatsrechtslehrers Edmund Bernatzik. Durch Strisowers Vorlesung angeregt, entstand seine erste Publikation über die "Staatslehre des Dante Alighieri", die im Jahre 1906, dem Jahre der Promotion Kelsens zum Doktor juris, erschien. Kelsen hat sie später als "nicht mehr als eine unoriginelle Schülerarbeit" bezeichnet und hinzugefügt, dass es freilich das einzige seiner Bücher gewesen sei, das keinerlei ablehnende Kritik erfuhr. Nach Absolvierung des "Gerichtsjahres", Publikation einiger verfassungsrechtlicher Arbeiten und einem Studienaufenthalt in Heidelberg, wo der - aus Wien stammende - damals führende Staatsrechtslehrer Georg Jellinek wirkte, gelang es Kelsen, dessen Familie - nach Krankheit und Tod des Vaters - in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, 1911 die Stellung eines provisorischen "Konzeptsadjunkten" an der Exportakademie (der späteren Hochschule für Welthandel und jetzigen Wirtschaftsuniversität Wien) zu erlangen. Im selben Jahre erschien seine - die Reine Rechtslehre begründende - Habilitationsschrift über die Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Die weiteren Jahre sind durch zahlreiche weitere Arbeiten, eine Reihe von Vorlesungen an der Universität und der Exportakademie gekennzeichnet. Damals wurden die - später bedeutenden - Gelehrten Adolf Merkl (1890-1970) und Alfred Verdroß (1890-1980) seine Schüler.
Von 1914-1918 hatte Kelsen Militärdienst zu leisten, wobei er vorwiegend für administrative Aufgaben herangezogen wurde. Seine letzte - und auch wichtigste - Tätigkeit in diesem Bereiche war die eines juristischen Referenten des Kriegsministers. Als solcher arbeitete der Hauptmann-Auditor Kelsen - im Auftrag des Kriegsministers - an einer Reform der Verfassung der Monarchie; zu einer solchen ist es freilich nicht mehr gekommen. Während dieser Zeit, nämlich 1917, wurde Kelsen als Professor an der Universität Wien und nach dem Tode von Edmund Bernatzik, 1919, als dessen Nachfolger ordentlicher Professor.
Nach dem Kriege erwuchs Kelsen eine verfassungspolitische Aufgabe von großer Bedeutung - er wurde von Staatskanzler Dr. Renner als Konsulent für die Ausarbeitung der neuen Verfassung Österreichs herangezogen. So wurde er - was hier nicht näher dargestellt werden kann - zu einem der Mitgestalter der Bundesverfassung 1920, die bekanntlich bis 1933 und dann wieder seit 1945 die rechtliche Grundlage Österreichs darstellt.
Damals entstand aber auch die - bereits erwähnte - "Wiener Schule", als deren unbestrittener Hauptvertreter Hans Kelsen wirkte.
1930 verließ Kelsen - nach leidenschaftlichen fachlichen Angriffen und politischen Benachteiligungen - Wien, um einem Ruf an die Universität Köln zu folgen. Damit war der Bestand der "Wiener Schule" als Zusammenarbeit gleichgesinnter Gelehrter beendet.
In der Folge blieb aber Kelsen weiterhin der Hauptvertreter seiner Lehre. Sein Lebensweg führte ihn - nach nur kurzen Lehrtätigkeiten in Köln, Prag und Genf sowie nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten im Jahre 1940 an amerikanischen Universitäten - schließlich an die Universität Berkeley (Kalifornien), wo es ihm seine bis ins höchste Alter anhaltende Schaffenskraft ermöglicht hat, seine Lehre immer wieder weiterzuführen und zu verteidigen.
Wenn man auch die zweite Auflage seiner "Reinen Rechtslehre" im Juli 1960 deren "definitive Formulierung" genannt hat (Kunz, öZöffR, NF, 11, 1961, S. 375), so zeigen sich doch auch noch später Modifikationen, die vom rastlosen Bemühen Kelsens zeugen, seine Lehre nicht nur zu verteidigen, sondern auch weiterzuentwickeln. Dies zeigt zuletzt das 1979 posthum erschienene Werk "Allgemeine Theorie der Normen". Es ist derzeit das letzte von über 600 - in 24 verschiedenen Sprachen erschienenen - Werken Kelsens. Aus diesen Arbeiten seien noch die "Allgemeine Staatslehre" (1925), die erste Auflage der "Reinen Rechtslehre" (1934) und die "General Theory of Law and State" (1945) hervorgehoben.
Kelsen war aber nicht nur wegen seiner Herkunft und der deutlichen Spuren eines österreichischen Schicksals in seinem Leben ein typischer Wiener; als solchen kennzeichneten ihn auch seine besondere persönliche Freundlichkeit und sein großer Charme, Eigenschaften, die nur scheinbar einen Kontrast zu seiner ehernen Härte in sachlichen Fragen und der Schärfe mancher seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzungen bilden. Der Wiener Kelsen wußte, dass man sich - im Leben - "auch vertragen können (muss)", dass es aber in der Wissenschaft nur auf die Wahrheit ankommen kann. Deshalb wollte Kelsen - obgleich politisch keineswegs neutral - sich auch keiner politischen Richtung anschließen und bekannte: "Stärker als diese Sympathie war und ist mein Bedürfnis nach parteipolitischer Unabhängigkeit in meinem Beruf. Was ich dem Staat nicht zubillige: das Recht, die Freiheit
der Forschung und Meinungsäußerung zu beschränken, kann ich auch einer politischen Partei, durch freiwillige Unterwerfung unter ihre Disziplin nicht einräumen."
Wenn ich vom "österreichischen Schicksal" Kelsens gesprochen habe, so deshalb, weil ihm erst spät jene Anerkennung zugekommen ist, die ihm gebührte: 1930 hat er - aus politischen Gründen - seiner Heimat den Rücken gekehrt. Dem folgten drei Emigrationen. Erst gegen Ende seines Lebens wurde dem elffachen Ehrendoktor (und Inhaber zahlreicher weiterer Ehrungen) auch in seiner Heimat der Respekt entgegengebracht, den Persönlichkeit und Werk erheischen.
Zum Abschluss der Zeichnung der Persönlichkeit Kelsens sei seine Antwort auf die ihm gestellte Frage nach seinen grundlegenden Erfahrungen als Mensch und Lehrer wiedergegeben. Er schreibt dazu: ". . . einer Erfahrung möchte ich Ausdruck geben: dass es im Leben, auch in einem Leben, das sich im wesentlichen unter Männern der Wissenschaft abspielt, vor allem auf den moralischen Charakter des Menschen ankommt, dass Wahrheitsliebe, Selbsterkenntnis, Duldsamkeit, der Wille, niemandem Unrecht zu tun, den eigenen Geltungstrieb so weit als möglich zu kontrollieren, nicht weniger wichtig sind als gegenständliches Wissen und dass diese Charaktereigenschaften auch Einfluß auf die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit haben."
Am 19. April 1973 starb Hans Kelsen in Berkeley.