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Ein Mensch und seine Wissenschaft#

Hans Kelsen, Urheber der Reinen Rechtslehre und Architekt der österreichischen Bundesverfassung, wurde eine monumentale Biographie gewidmet.#


Von der Wiener Zeitung (22. Oktober 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Gerhard Stadler


Seit wenigen Wochen ist Hans Kelsen als "Architekt der Verfassung" 1920 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Diese Bundesverfassung ist wohl heute die älteste Verfassung Europas, sieht man von den monarchischen ab. Generationen von Jus-Studenten wurde auch Kelsens "Reine Rechtslehre" mit ihrer Grundnorm und dem durch Adolf Merkl ausformulierten Stufenbau der Rechtsordnung, gelehrt.

Dieser Rechtspositivismus prägte damit die von Juristen dominierte österreichische Vollziehung. Die Zuständigkeit der von Kelsen in die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführten Prüfung und Aufhebung von Verordnungen und Gesetzen, die der jeweils übergeordneten Norm, letztlich der Verfassung, widersprechen, ist der in die Rechtsrealität eingeführte Stufenbau. Diese Priorität des Rechts gilt auch in Krisenzeiten - was von der Politik manchmal mit Unmut kritisiert wird.

Solche Normenprüfungsverfahren wurden nach dem Muster unserer Verfassung auch in anderen Staaten eingeführt (zuletzt in Frankreich 2008). Auch damit ist Kelsen einer der bedeutendsten Rechtswissenschafter des 20. Jahrhunderts. Zu seinem Werk und Wirken wurde zu seinem 90. Geburtstag von der Bundesregierung 1971 das Hans-Kelsen-Institut gegründet. Statutenmäßig ist der jeweilige Bundeskanzler Präsident des Kuratoriums.

Als Mensch fast unbekannt#

Hans Kelsen, Biographie eines Rechtswissenschaftlers' von Thomas Olechowski
"Hans Kelsen, Biographie eines Rechtswissenschaftlers" von Thomas Olechowski

"Hans Kelsen, Biographie eines Rechtswissenschaftlers" von Thomas Olechowski ist im Mai 2020 im Mohr Siebeck Verlag erschienen. Das 1027 Seiten umfassende Werk beleuchtet nicht nur das Leben des "Architekten" der österreichischen Verfassung, sondern es spiegelt auch die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wider. (ISBN: 978-3-16-159292-8; 60,70 Euro). Als Einführung empfiehlt sich Hans Kelsens "Reine Rechtslehre" aus 1934, ebenfalls im Mohr Siebeck Verlag erschienen.

Die Zahl der sich mit seinen Thesen auseinandersetzenden, auf mehreren Kontinenten erschienenen Arbeiten ist unüberschaubar - als Mensch ist Kelsen hingegen fast unbekannt geblieben. Nun ist eine, wohl ultimative Biografie erschienen, und zwar vom Rechtshistoriker Thomas Olechowski, Geschäftsführer des Hans-Kelsen-Institutes. Er arbeitete mit einem kleinen Team 15 Jahre lang daran. Das Werk, rund 1.000 Seiten lang und mit 1.278 Fußnoten, ist keine Synthese von Kelsens Schaffen, sondern folgt den biografischen Daten und beleuchtet Leben und Werk nebeneinander.

Ausgangspunkt war eine knappe Autobiographie, die Forschung erstreckte sich über Archive, Interviews von Zeitzeugen in drei Kontinenten, Kelsens Nachlass im Institut. Sein Leben wird nicht nur in jeder Phase beschrieben, sondern wir werden auch über deren äußere Umstände belehrt. Es ist Mikrohistorie der letzten Jahrzehnte der Donaumonarchie, der Zwischenkriegszeit Mitteleuropas und danach der USA. Das damit "nebenbei" vermittelte Wissen ist immens und macht dem historisch Interessierten die Lektüre zum Faszinosum.

Einige Beispiele: Die Gemeinde der Vorfahren als Basis des Heimatrechtes (für Kelsen daher Brody); der Lehrplan für Gymnasien (Matura 1900 am Akademischen Gymnasium); die - bis 1972 kaum veränderte - Studienordnung an den juridischen Fakultäten (Kelsen promovierte 1906 in Wien); und, wie das Verfahren zur Ernennung des Lehrkörpers an den Universitäten durch Beziehungen gefördert und durch Rankünen behindert werden konnte (Kelsen wurde zum 1. Oktober 1918 "ao. Professor für Staats- und Verwaltungsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Militärrechts, sowie für Rechtsphilosophie". Dazu lesen wir, wie er in jenen Monaten noch an der Schimäre des Fortbestandes der Monarchie arbeitete).

Lehrer und Publizierender#

Als Lehrer und häufig Publizierender wird er international bekannt (was ihm Aufträge für Gutachten bringt). Doch als er, seit 1919 auch Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, mit Argumenten aus seiner Lehre Zweit-Ehen als rechtmäßig beurteilt (sogenannte Dispensehen) polarisiert er in diesem konfessionell geladenen Bereich ebenso wie mit seiner Ablehnung der Bundesverfassungsnovelle 1929 als bundesstaats- wie demokratiefeindlich. Er erkennt, dass er sich um eine Position im Ausland bemühen sollte. Die "Umpolitisierung" des Verfassungsgerichtshofes 1930 beweist dies. Auch die Universität will ihn nicht mehr, und so nimmt er einen Lehrstuhl in Köln an - nicht ohne vorher so gut zu verhandeln, dass er deren höchstes Jahresgehalt erreicht (circa 173.000 Euro).

1931 kommt es mit Carl Schmitt zu der das Deutsche Reich beeinflussenden Kontroverse: "Wer ist der Hüter der Verfassung?" Schmitt sieht den Reichspräsidenten dazu berufen, während Kelsen dies nur einem Gericht zuerkennt. Der Pazifist ahnt die Folgen voraus und erreicht in Genf am Institut universitaire des hautes études internationales Lehraufträge, mit Hilfe derer er 1933 emigrieren kann. In Genf wird Völkerrecht sein Arbeitsschwerpunkt.

Er hat Geld- und Pensionssorgen, sodass er sich um eine Professur in Prag bemüht. Es gelingt, Kelsen erhält die tschechische Staatsbürgerschaft. 1938 ist er wieder bedroht und muss mit seiner Frau und den zwei Töchtern die Odyssee fortsetzen. 1940 kommt er in die USA, wo er an mehreren Universitäten tätig ist, bis er 1943 in Berkeley, an der University of California, seine neue Heimat findet. 1945 US-Bürger geworden, arbeitet er für Roosevelts Regierung an der Vorbereitung der UNO und der Nürnberger Prozesse. Seiner Finanzsorgen ist er ledig - doch 1953 wird er vom FBI wegen angeblicher kommunistischer Umtriebe verhört: 1948 hatte er eine "Theory of Bolshevism" veröffentlicht - den Unterschied zwischen "Sozialismus" (dem Kelsen zeit seines Lebens nahestand) und Kommunismus kannte man in den USA nicht.

Zu Ende seiner Lehrtätigkeit befasst sich Kelsen mit Gerechtigkeit und kommt zum ernüchternden Schluss: "Absolute Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal." Reisen nach Lateinamerika und Europa sind Vorträgen gewidmet. Auch nach Österreich kommt er noch mehrmals, zuletzt 1965, damals überschattet von antisemitischen Attacken von Taras Borodajkewycz. 1973 sterben Kelsen und seine Frau in Berkeley, ihre Aschen werden dem Pazifik anvertraut.

Poet und humorig#

Hans Kelsen versuchte sich manchmal poetisch, sein letztes Gedicht (1968) endet mit:

"Nach Wahrheit gerungen,

In Irrtum verfallen

Das Lied ist verklungen

Und der es gesungen

Vergessen von Allen."

Und: "Wissenschaft ist das Wichtigste in meinem Leben." Daher berichtet auch Olechowski nur von wenig wirklich Privatem: Kelsen schrieb kein Tagebuch, führte ein vorbildliches, standesgemäßes Familienleben (in Wien in der Wickenburggasse 23), war von bester Gesundheit, liebte Urlaub in den Bergen (Bad Gastein, St. Moritz) und Gesellschaft in Maßen. Religion bedeutete ihm wenig, doch konvertierte er zweimal. Er war ein "networker", und ein seine Theorien vehement verteidigender "workaholic"; für Musik und Literatur hatte er wohl zu wenig Zeit. Und er konnte humorig sein, im hoch zu lobenden Werk sind immer wieder Anekdoten eingefügt: Als sich einmal ein Hörer beklagt, er habe keinen wissenschaftlichen Kopf, um viele Stunden in Bibliotheken zu sitzen und Referenzen nachzuschlagen, meint Kelsen: "Sie können nicht sagen, sie hätten keinen wissenschaftlichen Kopf; was Ihnen fehlt, ist ein wissenschaftlicher Popo."

Gerhard Stadler
Gerhard Stadler
Foto: © privat

Ein Post Scriptum, das Olechowski noch nicht wissen konnte: Gerade war am 11. September im Hamburger Schauspielhaus die Premiere des politischen Dramas "Reich des Todes" von Rainald Goetz. Carl Schmitt und Hans Kelsen treten als Richter auf und müssen an der Gegenwart der Demontage der Demokratie, gezeigt mit Anspielungen und Zitaten, verzweifeln: Sind heute alle Normen Lüge? Von der Kritik bejubelt: Seit 2001 reales Zeittheater?

Gerhard Stadler, geb. 1947. Nach Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften wurde er Assistent am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien, wechselte dann ins Bundeskanzleramt und folgend ins Bundesministerium für öffentliche Wirtschaft und Verkehr. 2000 wurde er, als Sektionschef karenziert, in Brüssel Direktor der zwischenstaatlichen Luftfahrtorganisation Eurocontrol. Er verfasste zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen des österreichischen und des europäischen Rechts und zu Austriaca-Themen.

Wiener Zeitung, 22. Oktober 2020


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