Was mir als Christ der Koran bedeutet #
„Mein Koran“: Ein ganz persönlicher Versuch der Annäherung eines katholischen Theologen an die Heilige Schrift der Muslime – und ein Plädoyer für wechselseitige kritische Lektüre der Ur-Kunden der monotheistischen Religionen im Sinne besseren Verständnisses.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 31. Juli 2014)
Von
Karl-Josef Kuschel
Kuschel. Der Autor lehrt Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs in Tübingen. Der Beitrag ist die gekürzte Fassung des Vortrags, den Kuschel bei den vom Herbert-Batliner- Europainstitut veranstalteten Disputationes der Ouverture spirituelle zu den Salzburger Festspielen gehalten hat.
Der Koran will ausdrücklich keine völlig neue Offenbarung bringen, sondern die uralte Religion wieder herstellen, die Juden und Christen bereits von Gott anvertraut wurde: die Religion Abrahams. Ausdrücklich fordert er die Muslime auf: „Sagt: Wir glauben an Gott, an das, was zu uns, zu Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen herabgesandt, was Mose und Jesus gegeben wurde, was den Propheten gegeben wurde von ihrem Herrn. Wir machen bei keinem von ihnen einen Unterschied. Wir sind ihm ergeben.“
Der Koran erklärt immer wieder, dass Juden und Christen von Gott bleibend gültige Offenbarungsschriften bekommen haben: die Juden die Tora durch Mose und die Christen das Evangelium. Das macht den Dialog zunächst leichter und erklärt, warum Juden und Christen als „Leute des Buches“ im Koran eine relativ hohe Wertschätzung genießen. Sie wird sich unter islamischer Herrschaft auf ihren religiösen und rechtlichen Status auswirken: Als „Schutzbefohlene“ genießen sie – anders als Ungläubige – Duldung für ihre Religionsausübung, was freilich mit einem modernen Verständnis von Religionsfreiheit nicht zu verwechseln ist. Immerhin aber fanden Tausende spanische Juden im osmanischen Reich Aufnahme, als eine fanatische Reconquista christlicher Herrscher sie gnadenlos aus ihrer Heimat vertrieb.
Dritte Offenbarung Gottes #
Zugleich macht der Koran deutlich, warum eine dritte Offenbarung Gottes nötig ist – jetzt an das Volk der Araber: weil Juden und Christen die Botschaft ihrer Offenbarungsschriften zum Teil verfälscht oder verzerrt, zum Teil falsch oder mangelhaft ausgelegt hätten und darüber in Streit geraten seien. Da dies die ursprüngliche Botschaft verdunkelte, habe Gott sie durch eine abschließend-endgültige Offenbarung in ihrer Reinheit und Klarheit wieder herstellen müssen.
Das heißt: Einerseits bestätigt der Koran, dass Juden und Christen keinen Einbildungen folgen, sondern einer von Gott kommenden Botschaft. Andererseits lässt der Koran an jüdischen und christlichen Überlieferungen nur das gelten, was er ausdrücklich anerkennt. Wir haben es also mit einer höchst selektiven „Bestätigung“ zu tun. Das macht den Dialog schwierig. So weist der Koran zentrale christliche Glaubensaussagen – vor allem die Gottessohnschaft Jesu, seine Kreuzigung und damit seinen Erlösertod – ausdrücklich zurück.
Gewiss: Jesus als „Gesandter Gottes“ und Maria als „Erwählte Gottes“ genießen im Koran höchsten Respekt. Aber große Teile der neutestamentlichen Botschaft sind im Koran schlicht abwesend und daher für Muslime belanglos. Wir Christen tun uns mit der Lektüre des Koran schwer. Das hat vor allem zwei Gründe: Lesewiderstand und Abwehr bestimmter Inhalte. Lesewiderstand erzeugt der Koran schon durch seinen Aufbau: Die 114 Suren sind nach Länge geordnet. Die längeren Suren stehen am Anfang und enthalten neben der Grundbotschaft auch viele Regeln und Rechtsvorschriften für die Ordnung einer Gemeinde. Für eine Lektüre von Anfang an ist das ungemein ermüdend.
Der Rat eines Korankenners hat mir geholfen: Einstieg in den Koran vom Ende her. Erstens trifft man dann auf die kürzeren Suren und dringt schneller in den Text ein – und zweitens sind die kürzeren Suren meist auch die frühen, die noch stärker die Kraft der prophetischen Botschaft erkennen lassen.
Schwer tun wir Christen uns auch mit bestimmten Inhalten des Koran. Auch ich bin oft befremdet über die Polemik gegen „die Ungläubigen“, über die Androhungen von Gericht und Höllenstrafe – und erschrocken über Schmähungen, Strafreden und Kampfaufrufe. Über Verse, wo vom Erschlagen und Vertreiben von Ungläubigen die Rede ist.
Ich will das nicht verharmlosen, schon deshalb nicht, weil solche „Koranstellen“ immer wieder politisch missbraucht werden – bis hin zu Rechtfertigung von Intoleranz und Gewalt. Das erfüllt mich als Christ, aber auch viele dialogoffene Muslime, mit Abscheu.
Trotzdem denke ich nicht daran, mit dem Koran das zu tun, was ich mir auch bei der Bibelauslegung abgewöhnt habe: „Steinbruch- Exegese“. Das heißt: Man bricht sich aus einem Ganzen einzelne „Brocken“ heraus, isoliert sie kontext- und geschichtslos und benutzt sie als Wurfgeschosse im Religionen- Gezänk. Als hätte nicht auch der Koran Anspruch auf geschichtssensible Auslegung. Auch viele muslimische Ausleger sehen das heute so: Gott hat die Zeitumstände des 7. Jahrhunderts und den Verstehenshorizont der Menschen von damals benutzt, um seinen Willen kundzutun. Das muss bei der Auslegung Berücksichtigung finden. Eine dilettantische 1:1-Übertragung bestimmter Stellen ins Heute kann tödliche Folgen haben, vor allem dann, wenn sich ein Auslegungs-Dilettantismus mit religiöser Verblendung paart. Als ob nicht eine der wichtigsten Botschaften des Koran lautete: „Wenn einer jemanden tötet, dann ist das, als ob er die Menschen allesamt tötet. Wenn aber einer jemandem Leben schenkt, dann ist das, als ob er den Menschen allesamt Leben geschenkt hätte.“
Vertraute Stoffe und Figuren #
Die Gewaltstellen gibt es, aber damit wird der Koran ebenso wenig zu einem Buch der Gewalt wie die Hebräische Bibel. Man lese nur die Bücher Josua und Richter oder einige Psalmen – und jede selbstgerechte Heuchelei von Christen gegenüber Muslimen wird absurd. Grundbotschaft des Koran und der Hebräischen Bibel ist jene vom „erbarmenden und barmherzigen Gott“. Jede seriöse Auslegung stellt einzelne Passagen in einen Gesamtzusammenhang.
Für mich liegt die „Originalität“ des Koran vor allem in seiner Sprache und bildlichen Kraft sowie in der direkten, existenziellen Anrede an jeden Einzelnen. Viele Suren sind buchstäblich „er-greifend“. Die Adressaten werden aufgerüttelt, ermahnt, beschworen, getröstet. Immer wieder wird erinnert, was Gott alles möglich gemacht hat – und immer wieder erfolgt die Rückfrage: „Welche Wohltaten eures Herrn wollt ihr denn leugnen?“ Dieses Wiederholen durchdringt Ohr und Herz, bis es Menschen überzeugt, vor Gott ein Verdankter und Dankender zu sein.
Im Koran treffe ich als Christ vertraute Stoffe und Figuren wieder: Adam, Noah, Abraham oder Mose werden nicht nur kurz erwähnt, ihre Geschichten werden breit entfaltet und aktualisiert. In rund 40 der 114 Suren kommt allein die Geschichte des Mose und sein Konflikt mit dem Pharao vor. Er lässt die Menschen von Mekka ihre eigene Konfliktsituation wiedererkennen, insbesondere den Kampf des Propheten gegen das politische und wirtschaftliche Machtkartell. Ein Urkonflikt ist hier aktualisiert: Gottes Wille gegen den Willen der Mächtigen der Welt.
Je länger ich die Überlieferungen studierte, die der Koran mit der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament teilt, desto mehr wurde mir die innere Verwandtschaft der drei Religionen bewusst, ohne die Unterschiede zu ignorieren. Einem Muslim muss ich nicht erklären, wer Jesus und seine Mutter Maria waren – der Koran erzählt die Geschichte von Jesu Geburt ausführlich. Einem Hindu oder Buddhisten müsste ich das erklären.
Gemeinschaft des Glaubens #
Das heißt: Wir Christen teilen mit Muslimen (und Juden) Überlieferungen, die wir mit anderen Religionen nicht teilen. Mit ihnen bilden wir eine Glaubensgemeinschaft mit einem unverwechselbaren Profil, das sich signifikant von anderen unterscheidet. Das hat in der Vergangenheit oft genug zu polemischer Abgrenzung geführt. Es ist an der Zeit für ein Bewusstsein gemeinsamer Verantwortung, etwa bei gemeinsamen Ausbildungsprogrammen für Rabbiner, Pfarrer und Mullahs. „Trialogisch denken“ sollte die Parole der Zukunft sein.
Ein Letztes: In vielen Punkten bestärkt mich der Koran in meinem christlichen Glauben. In anderen Punkten aber bleibt ein Grunddissens, der schon im Koran grundgelegt ist. Christen und Muslime werden stets die Person Jesu theologisch unterschiedlich werten. Für Christen ist und bleibt er der definitive Interpret Gottes. Der Titel „Gottessohn“ fasst dies formelhaft zusammen. Der bleibende Unterschied kurz gefasst: Für Christen ist Gottes Wort in der Person Jesu „Mensch“ geworden. Für Muslime hat Gottes Wort im Koran irdische Gestalt gewonnen.
Und doch hört damit das Gespräch nicht auf. Für mich als Christ ist der Koran also auch eine konkrete Infragestellung meines Christusglaubens, etwa wenn er auf die Kreuzigung Jesu zu sprechen kommt. Er zitiert Gegner Jesu die behaupten, Jesus getötet zu haben und hält entschieden dagegen: „Sie haben ihn aber nicht getötet und gekreuzigt [...], sondern Gott hat ihn zu sich erhoben.“
Kreuz als „Ärgernis“ und „Torheit“#
Dieser Koranvers hat sehr viel gegenseitige Polemik ausgelöst. Christen haben sich empört, dass ein für ihren Glauben zentrales „Geheimnis“, die Heilsbedeutung des Kreuzestodes Christi, klar bestritten wird. Muslime haben Christen ein unsägliches Gottesverständnis vorgeworfen: Wie könne man an einen Gott glauben, der einen von ihm Gesandten einem derartigen Schandtod aussetze? Nein, Gott habe dafür gesorgt, dass Jesus zu ihm „erhoben“ worden sei.
Ich muss zugeben: Zwar steht für mich das Faktum einer Kreuzigung Jesu fest – und ich habe keinen Grund, dieses im Neuen Testament von Anfang bis Ende bezeugte „Ereignis“ zu bestreiten. Hier kann ich dem Koran nicht folgen. Aber mit einer Theologisierung des Sterbens Jesu am Kreuz tue ich mir auch als Christ schwer. Schon der Apostel Paulus sagt ja, das „Wort vom Kreuz“ sei einigen ein „Ärgernis“, anderen eine „Torheit“. Damit signalisiert er: Dass Gott ausgerechnet durch diesen grauenhaften Tod des Gottessohnes seine liebende Versöhnung mit der Menschheit bezeugt haben soll, provoziert seit jeher Rückfragen an ein solches Liebesund Gottesverständnis. Hier verstehe ich die Einrede des Koran, ohne ihr zu folgen. Denn er tut das nicht aus billiger Polemik gegen ein christliches „Glaubensgeheimnis“, er tut es um Gottes und Jesu willen. Das nehme ich ernst.
Genaue Kenntnis von Texten und wechselseitige kritische Lektüre dieser Ur-Kunden ist also angesagt. Man kann sich dabei am Koran-Kenner Johann Wolfgang von Goethe orientieren. In seinem „West-östlichen Divan“ schreibt er, dieses „heilige Buch“ befremde einen „immer von neuem“, dann aber zöge es einen an, setze einen in Erstaunen – und nötige „am Ende Verehrung“ ab.