Zwei sich überschneidende Balken#
Eine Kulturgeschichte: vom Heiligen Kreuz mit Kreuzrittern über Kreuzwege zurück zum belebenden Henkelkreuz.#
Mit freundlicher Genehmigung der Wiener Zeitung, 30. März 2018
Von
Brigitte Borchhardt-Birbaumer
Wenn der Papst am Karfreitag den Kreuzweg am Kolosseum in Rom geht, gedenkt er auch der christlichen Märtyrer, die bis Kaiser Konstantin (er regierte 306 bis 337) Teil grausamer Kampfspiele waren. Dort, wo für die 70.000 Zuschauer Menschen und Tiere starben, wurde vor dem 19. Jahrhundert ein großes Kreuz in der Mitte aufgestellt; es gab Freitagspredigten, und wer das heilige Zeichen im Zentrum küsste, bekam ein Ablassversprechen. Seit dem 20. Jahrhundert steht es seitlich, die Messfeiern sind auf Ostern beschränkt.
Kreuze waren seit der Prähistorie Symbol für vieles. Dass bronzezeitliche Menhire und alte Hügelgräber Kreuze tragen, diskutiert man heute weniger als etwa die Gipfelkreuze und Kreuze in öffentlichen Gebäuden.
Christus, für Michelangelo der schönste Mann#
Dabei ist das Kreuz als Auferstehungs- und Siegeszeichen erst spät (nach dem Konzil von Ephesos 431) von den Christen zum Sinnbild gewählt worden, davor waren Fisch und die griechischen Buchstaben Chi und Rho für den Anfang des Namens Christos Verständigungszeichen. Das Leiden am Kreuz und der Märtyrerkult waren eine gute und kühne Werbestrategie, die in Konstantins Regierungszeit begann. Mit seiner Mutter Helena ist die Legende der Auffindung des wahren Kreuzes 325 in Jerusalem verbunden. Sie teilte die hölzerne Kreuzesreliquie (und die gefundenen Nägel) zwischen Jerusalem (Grabeskirche), Rom (Santa Croce in Gerusalemme) und Konstantinopel (Pharoskapelle) auf.
Michelangelo hat das Thema Kreuz 1521 mit seinem Idealtypus von Christus als schönstem Mann verbunden, bis kurz nach 1970 konnte man die Marmorfigur in Sa. Maria sopra Minerva in Rom ohne barockes Schamtuch sehen - der fleischgewordene Auferstandene darf in unserer Zeit nicht mehr nackt sein. Piero della Francesca hat die Kreuzauffindung gemalt, und in Arezzo sind auch die Nacht und der Traum Konstantins im Jahr 312 zu sehen, als ihm ein Engel das Kreuz als Siegeszeichen gegen Maxentius an der Milvischen Brücke ankündigte. In den Widmungen Konstantins - des ersten Kaisers, der das Christentum maßgeblich förderte - wird die Kreuzform auch Architektur. Der kreuzförmige Grundriss der wichtigsten Kirche Roms, Alt-St. Peter, entfernte sich als Memorialbau für den Märtyrerapostel von den antiken Basiliken oder Rundbauten. Es folgen Bauten für Johannes in Ephesos und einige Heilige in Syrien und Armenien; in St. Peter liegt am Schnittpunkt der Kreuzbalken, heute unter Michelangelos Kuppel, das Grab des Apostels.
Die Kreuzessplitter sind durch die Eroberer in Jerusalem und Konstantinopel in verschiedene Hände geraten und in alle Richtungen verstreut, auch aufgeteilt durch die Kreuzritter und den lukrativen Handel mit Reliquien. Nimmt man all die Güter zusammen, die in Kirchen, Klöstern und Schatzkammern ruhen (die Wiener Schatzkammer bewahrt eine Kreuzesreliquie in den Reichskleinodien auf), würden sie einen Kreuzwald ergeben.
50.000 Kreuze gegen die russischen Besatzer#
Ansonsten konzentrieren sich Kreuze in Friedhöfen, Wallfahrtsorten und Kalvarienbergen. Die bekannteste Ansammlung findet sich - mit etwa 50.000 Stück - auf einem Hügel an der Straße nach Riga in Litauen (iauliai) und wurde im 20. Jahrhundert Wallfahrtsort des politischen Widerstands gegen die Sowjetunion. Die Besatzermacht versuchte von 1959 bis in die 1970er Jahre mit Bulldozern und Bränden, diesen Ort bester Volkskunsttradition zu zerstören.
Die religiösen Symbole haben sich hier stark verdichtet, nachdem tausende im Gulag vermisste Personen bis zur Unabhängigkeit 1991 Kreuze gesetzt bekamen. Papst Johannes Paul II. regte 1993 während einer Messe ein Kloster an, das es seit dem Jahr 2000 gibt. Der "Berg der Kreuze" ist von starker politischer Wirkung, aber freilich auch von kitschigen Motiven mitbestimmt.
Aktionismus vermischt Bluttaufe mit Kreuzigung#
Kitschig sind auch die im Symbolismus beliebten nackten Märtyrerinnen am Kreuz, deren Vorläuferin die heilige Kümmernis, eine bärtige frühchristliche Heilige mit keltischen Ursprüngen, ist. In der Fotografie kehrt diese Gekreuzigte bei František Drtikol wieder, in der feministischen Avantgarde von Hannah Wilke, Bettina Reims und Francesca Woodman voller Ironie.
Auch unter solchen Bedingungen kann die Inszenierung in Christuspose stattfinden. Jesus Christ Superstar und die Pop-Art haben Tabus in der Kunst vorübergehend fallen lassen. Daran beteiligt waren Aktionisten und Fluxuskünstler wie Hermann Nitsch und Joseph Beuys. Nitschs Orgien-Mysterien-Theater bringt mit Kreuzaufrichtung und Bluttaufe den antiken Dionysoskult und das Christentum in Einklang; Beuys verfolgt das christliche Zeichen zurück bis in die Prähistorie, sein "Braunkreuz" ziert viele Werke wie ein Stempel und nimmt die ältere griechische Kreuzform mit gleich langen Balken auf. Die waagrechte (irdische) und die senkrechte (himmlische) Achse veranschaulichen den Austausch zwischen Leben und Tod, weiblich und männlich, Materie und Geist im Zyklus der Jahreszeiten; das Kreuz und die kretische Doppel-Kult-Axt (Labrys) sind verwandte Symbole.
Die älteste Darstellung ist das rote Kreuz, das Steinzeitmenschen in der Höhle von Chauvet neben Tiere gemalt haben. In Kombination mit dem Pferd ist das Kreuz auf keltischen Münzen zu finden: Als Auferstehungssymbol fliegt es vor dem Maul im Atem des im Kosmos schwebenden Tieres. Das Kreuz als Auferstehungssymbol vor dem christlichen Märtyrerkult kann man auch im alten Ägypten finden: Dort hält Hathor, die Göttin des Westens, dem toten Pharao Amenophis II. ein Henkelkreuz in seinem Grab zur Wiederbelebung vor die Nase. Die verfolgten Kopten verbinden Letzteres bis heute mit dem lateinischen Kreuz zu ihrem christlichen Sinnbild.