Ist der Islam mit dem Europa von heute vereinbar?#
Karl Prenner
Der Islam ist von seinem Selbstverständnis her nicht nur Religion, sondern umfasst auch Kultur, Gesellschaft und Politik und gibt daher nicht nur Glaubensgrundsätze an, sondern verweist auch auf eine Lebens- und Gesellschaftsordnung im privaten wie im öffentlichen Bereich. Im Zentrum steht daher ein Normen- und Wertekodex mit einer umfassenden Handlungsanleitung (Scharia) in Form von Geboten und Verboten, gültigen und ungültigen Handlungen als konkreter Ausdruck des Willens Gottes. Von daher ergibt sich die Bedeutung der Rechtswissenschaft, die im Islam auch die Glaubenslehre verwaltet. Aus diesem umfassenden Anspruch islamischer Lebens- und Handlungsweise resultieren dann für den Islam im europäischen Kontext diverse Fragestellungen, vor allem jene nach dem Verhältnis von Religion und Kultur, Religion und Säkularität, Religion und Politik.
Aspekte, die der westlich geprägte Mensch als Ausdruck von Kultur versteht, werden von muslimischer Seite oft als zur Religion gehörig bezeichnet, wobei die Berufung auf Religionsfreiheit im europäischen Kontext dies ermöglicht. Insgesamt ist innerhalb der muslimischen Gesellschaften eine Tendenz zu beobachten, die der Religion auch in der Gesellschaft und Politik eine größere Rolle zuschreibt, als dies etwa im westlich säkularisierten Modell der Fall ist, und von daher der „westlichen Moderne“ eine „islamische Moderne“, eine „bessere Moderne“ gegenübergestellt wird, was letztlich auch aus einer kritischen Haltung gegenüber dem Westen resultiert.
Muslime in der Diaspora stellen daher immer stärker die Forderung nach einer Scharia für Europa. Dies bedeutet, dass einer Säkularisierung im Islam Grenzen gesetzt sind. Dies zeigt nicht nur die Debatte um die Verankerung des westlichen Menschenrechtskodex im Islam, sondern auch das muslimische Meinungsspektrum zum säkularen Rechtsstaat, das von Anerkennung bis Ablehnung reicht.
Der Islam hat geistesgeschichtlich keine Aufklärung durchgemacht, obwohl sich solche Traditionen in der islamischen Philosophie und Theologiegeschichte im Rahmen der Übersetzungstätigkeit des griechisch-hellenistischen Kulturerbes herausgebildet haben. Im geistesgeschichtlichen Bereich wurden diese Traditionen für den Islam als nicht authentisch bewertet, trotzdem greifen heute diverse Reformer und Reformbewegungen auf diese rationalen Traditionen zurück, um den Islam an moderne Verhältnisse anzupassen. Das Prinzip des idschtihad, der Rechtsfindung aufgrund der eigenen Meinungs und Urteilsbildung, ist hier wegweisend.
Ein europäischer Islam bedarf nicht nur zeitgemäßer religiöser Reformen, sondern auch einer historisch-kritischen Aufarbeitung seiner eigenen authentischen Quellen und Geschichte, einer Klärung des Verhältnisses von Religion und Kultur, Religion und Politik, Staat und Religion. In gleicher Weise wäre auf europäischer Ebene auch das Verhältnis von Kirche und Staat zu klären. Insgesamt ist aber hierbei nicht aus den Augen zu verlieren, dass Muslime und Musliminnen ihren Islam grundsätzlich sehr unterschiedlich deuten und praktizieren.
Dieser Essay stammt mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus dem Buch: