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Die Lebenden und die Toten sind im Glauben vereint #

Christliches Totengedenken zielt nicht auf gemeinsame Abstammung #


Von

Michael Mitterauer


Wenn wir in den Tagen um Allerheiligen und Allerseelen die Gräber von verstorbenen Angehörigen besuchen, so vollziehen wir Handlungen und Riten, die scheinbar in allen Kulturen recht ähnlich sind. Ist Totengedenken eine anthropologische Konstante? Wäre dem so, dann ließen sich viele Unterschiede zwischen Gesellschaften schwer erklären. Die Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten variieren weltweit beträchtlich. Solche Vorstellungen sind ein Schlüssel zum Verständnis von Gesellschaften. An einer vereinfachten Gegenüberstellung von ostasiatischen Ahnenkultformen und christlichem Totengedenken seien derartige Unterschiede erläutert.

Ein japanischer Anthropologe fasst zusammen: „Greifen wir zunächst das Thema Ahnenkult auf, das von vielen sowohl als die eigentliche Grundlage der chinesischen Religion als auch der auffallendste Grundzug angesehen wird, der sich durchgehend in der chinesischen Geschichte finden lässt … Die Ahnen nahmen die Rolle von Schutzgeistern der Verwandtschaftsgruppe ein und begannen, Opfergaben zu erhalten: Fleisch, Getreide und Wein … Durch eine enge Verbindung zwischen Lebenden und Toten dient der Kult nicht nur dazu, die Beziehungen zwischen den Lebenden zu festigen, sondern auch ihnen irdischen Nutzen zu bringen.“ In vielen Ahnenkultgesellschaften finden sich ähnliche Vorstellungsmuster, auch wenn sie sich zur Gegenwart hin häufig abschwächen. Die Blumen auf dem Grab der Mutter zu Allerseelen gehören in einen ganz anderen Zusammenhang. Und sie haben im Christentum auch keine vergleichbaren Vorstufen in der Geschichte des Totengedenkens. Es gibt kein Gebet und kein Opfer, das sich speziell an verstorbene Vorfahren wendet. Heilige, nicht Ahnen werden als besondere Fürbitter bei Gott angesehen.Von sich aus können Verstorbene nur vermitteln, nicht selbst den Lebenden helfen. So steht im Christentum nicht das Gebet zu ihnen, sondern das Gebet für sie im Vordergrund. Dieses Gebet für Verstorbene erscheint vor allem dann wichtig, wenn dadurch ihre Leidenszeit im Fegefeuer verkürzt wird. Das Aufkommen des Fegefeuerglaubens in der Westkirche im Hoch- und Spätmittelalter hat das Beten und das Messe-Aufopfern für Tote enorm verstärkt. Ein solcher Dienst an Verstorbenen konnte allerdings keineswegs nur von Nachfahren verrichtet werden, wie in Ahnenkultgesellschaften, sondern von beliebigen Angehörigen, Freunden, Bekannten, ja auch von völlig fremden Personen. Eigene Gebetsbruderschaften wurden gegründet, um diesen religiösen Liebesdienst zu verrichten – Bruderschaften, die über Klostergemeinschaften hinaus auch allein von Laien getragen wurden. Solche Bruderschaften sind eine wichtige Vorstufe unseres europäischen Vereinswesens. Das Gebetsgedenken begünstigte also genossenschaftliche Zusammenschlüsse von Personen, die untereinander nicht verwandt waren. Während das für das Wohlwollen der Vorfahren in Ahnenkultgesellschaften dargebrachte Opfer mit patrilinearen Klanstrukturen korrespondiert, förderte christliches Totengedenken zunehmend eine Lockerung von Abstammungsbeziehungen, ja von Verwandtschaftsbeziehungen überhaupt. Das Produkt dieser Entwicklungen können wir idealtypisch im ersteren Fall als „vertikale Gesellschaft“, im letzteren als „horizontale Gesellschaft“ charakterisieren.

Die unterschiedlichen Auswirkungen von Ahnenkult auf der einen Seite, vom Fehlen eines abstammungsorientierten Totenkults auf der anderen Seite lassen sich am deutlichsten im Bereich von Familienstrukturen fassen. Ahnenkultgesellschaften sind, um die Fortführung der Patrilinie und damit des Ahnenopfers zu sichern, grundsätzlich stark an Söhnegeburten interessiert, sie fördern dementsprechend frühe Heirat, hohe Fruchtbarkeit, eventuell auch Polygamie und Konkubinat. Der Fortsetzung des Mannesstamms dient im Falle der Söhnelosigkeit die Adoption, die häufig auf männliche Klanangehörige beschränkt ist. Haus- und Grundbesitz, die so gedacht werden als gehörten sie Lebenden und Toten gemeinsam, gehen in männlicher Linie weiter. Bei ungeteiltem Besitz kann es dabei zum Zusammenleben mehrerer verheirateter Brüder kommen. Die Grundstruktur der Hausgemeinschaft beruht jedenfalls auf dem Prinzip der Patrilinearität. Den Familienältesten kommt besondere Autorität zu, stehen sie doch den Ahnen am nächsten und werden selbst bald zu Ahnen werden. Christlich-europäische Familienentwicklungen hingegen folgen ganz anderen Grundsätzen. Patrilinearität ist kein bindendes Prinzip. Weitergabe von Häusern über Töchter oder wiederverehelichte Witwen erscheint möglich. Die Autoritätsposition im Haus muss nicht vom ältesten Mann ausgeübt werden. Der Hausgemeinschaft können auch nichtverwandte Personen angehören. Besondere Bedeutung kommt dabei der Aufnahme von Knechten, Mägden, Lehrlingen, Gesellen und sonstigen Gesindetypen zu. Geheiratet wird relativ spät. Mehrere verheiratete Paare innerhalb einer Haugemeinschaft begegnen eher selten. Adoption wurde seit der Antike Jahrhunderte hindurch von den verschiedenen christlichen Kirchen bekämpft. An deren Stelle haben sich vielfache Formen der geistlichen Verwandtschaft entwickelt, vor allem auf der Grundlage der Taufpatenschaft entstandene. Soziale Beziehungen werden hier durch das Sakrament gestiftet - neben der Taufe vor allem das der Ehe Insgesamt begründet die in christlichem Verständnis neue Gemeinschaft. Die Getauften verstehen einander als „Brüder“ und „Schwestern“, mithin als eine Familie im übertragenen Sinn. Das Christentum ist eine ausgeprägte Gemeindereligion. Als solche hat sie traditionellen Abstammungsbindungen entgegengewirkt und die Tendenz zu „horizontalen Gesellschaften“ verstärkt.

In der Beziehung zwischen Lebenden und Toten kennt das Christentum prinzipiell keine partikularistische Beschränkung auf Personen, die durch gemeinsame Abstammung miteinander verbunden sind. Christliches Totengedenken ist universalistisch konzipiert. Die Gemeinschaft der Heiligen („communio sanctorum“) umfasst dem theologischen Konzept nach die Gesamtheit der lebenden und verstorbenen Christen. Die Schwierigkeit, eine solche Solidargemeinschaft zu leben, lässt sich in der Geschichte des christlichen Totengedenkens deutlich sehen. Die Totenmemoria wurde im Mittelalter primär von untereinander verbrüderten Klostergemeinschaften getragen. Mit dem Klosterverband von Cluny erreichte ein solcher Zusammenschluss erstmals europäische Dimensionen. Die Last des individuellen Gedenkens an Verstorbene wurde in diesem Rahmen zu groß. Abt Odilo von Cluny (994–1048) hat daher als Form des kollektiven Totengedenkens das Allerseelenfest geschaffen. Heute steht an diesem Tag das Denken an Familienangehörige im Vordergrund. Die Spannung zwischen universaler und familialer Solidarität wird an dieser Entwicklung deutlich. Der christlich-europäische Weg der Überwindung der religiösen Bedeutsamkeit von Verwandtschaftsverbänden hat viel an gesellschaftlichem Fortschritt ermöglicht. Das Dilemma von Solidarverpflichtungen in familialem und in universalem Rahmen ist mit ihm jedoch von vornherein verbunden.