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unbekannter Gast

"Wer zweifelt, der denkt"#

Am 13. Mai feiert der Philosoph, Theologe und Religionswissenschafter Adolf Holl seinen 80. Geburtstag. – Eine kritische Würdigung.#


Mit freundlicher Genehmigung aus der Wiener Zeitung (Samstag, 8. Mai 2010)

Von

Georg Sutterlüty


Adolf Holl
Ein heiterer Gelehrter: Adolf Holl
© Wiener Zeitung / Foto: apa/ Barbara Gindl
Adolf Holl trat in mein Leben, als ich 30 Jahre alt war und er 74. Das war im Jahr 2004. Damals hatte er mich in seine Wohnung in der Hardtgasse geladen. Treffpunkt 16.30 Uhr. Die Tür öffnete mir ein Mann mit wirbelnd-weißem, schütterem Haar, mit tiefen, von Tränensäcken getragenen Augen und mit Altersflecken auf den Handrücken: Dieser Mann, das war deutlich zu erkennen, war in die Jahre gekommen. Aber wie musste ich mir den jungen Holl vorstellen, den Kaplan im heiligen Priestergewand und mit ausgebreiteten Armen zum Segensgruß? Und wie den Holl in seinen besten Jahren, als er die Kanzel gegen das Rednerpult eingetauscht hatte, in einem stickigen Saal, der vor emotionaler Spannung überzukochen droht?

Um diesen Adolf Holl zu entdecken, muss man in die Archive gehen und in den Geschichtsbüchern blättern. Der Mann, der im Jahr 2004 vor mir stand, war ein Gelehrter mit ruhigem Blick, der erst einmal „Grüß Gott“ zu mir sagte. Adolf Holl war mir lange Zeit kein Begriff. In den Neunzigerjahren, als meine Generation groß wurde, war er in der breiten Öffentlichkeit nicht mehr präsent. Dass ich ihn entdeckte, verdanke ich einem Zufall, einer historischen Untersuchung, die mich in die Siebzigerjahre des Bregenzerwaldes zurückführte. Holl war nämlich 1974 als Referent im Tal gewesen und hatte einigen Staub aufgewirbelt. Der hatte sich, nachdem er gegangen war, allerdings bald wieder gelegt. Übrig blieb lediglich ein kurzer Bericht im Pfarrblatt meines Ortes, der zwar sehr dezidiert gegen den Gast aus Wien gerichtet war – er habe nämlich die Bibel sehr einseitig ausgelegt und kläglich sei sein Abgang gewesen –, doch viel mehr war ihm leider nicht zu entnehmen. Doch dieser Name hatte mich neugierig gemacht, und ich begann, tiefer in der Geschichte zu bohren.

Es stellte sich heraus: Der gesamte Bregenzerwald stand in den Siebzigerjahren zeitweilig unter Feuer, vor allem entfacht von jugendlichen Schülern und Studenten, die sich von der Achtundsechzigern hatten inspirieren lassen und großangelegte Aktionen starteten, mit denen sie gegen die starren sozialen Strukturen und überkommenen Traditionalismus rebellierten. Holl war nur das letzte Glied dieser Kette. Er zog also damals durch die Provinzen, um zu missionieren, aber auch um Geld zu verdienen. Der Auftritt im Tal wurde ihm für damalige Verhältnisse mit 5000 Schilling köstlich vergütet.

Jedenfalls ließ sein Name die braven Bürger erzittern. Im Vorfeld der Veranstaltung hatte sich eine Initiative gebildet, die mit Vehemenz den Auftritt des Kaplans zu verhindern versuchte.

Es gingen sogar Bittgesuche an den Bundespräsidenten, er solle den Holl in Wien behalten. Da diese nicht fruchteten, schritt die Initiative zur Tat. Sie barrikadierte die Straße am Eingangstor zum Tal, um den unerwünschten Gast noch rechtzeitig abzufangen. Doch die Jugendlichen waren informiert und wählten mit dem Vortragenden im Auto, den sie am Bahnhof in Dornbirn abgeholt hatten, einen anderen Weg in den „Wald“. Mittlerweile hatte sich der Saal zum Bersten gefüllt, auch hatten sich Exekutivbeamte eingefunden. Man wollte auf Nummer sicher gehen, fürchtete man doch, Holls Worte könnten zu Ausschreitungen führen. Letztlich lief die Veranstaltung friedlich ab.

Vom Priester zum Autor#

Aber wer war dieser Mann, dessen bloßer Name ausreichte, um ein Tal zu erschüttern, das sonst friedlich in seinem Bergidyll ruhte? Holls biographische Eckdaten sind hinlänglich bekannt: Geboren 1930 in Wien, 1948 ins Priesterseminar eingetreten, 1954 zum Priester geweiht, danach Kaplan und zeitweilig Religionslehrer in Wien, Dozent an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien, 1973 mit einem Lehrverbot belegt, 1976 vom Priesteramt suspendiert. Hauptgrund für seine kirchliche Ächtung war das 1971 erschienene Buch „Jesus in schlechter Gesellschaft“, das ein Bestseller wurde.

Darin sägte er am Stamm der Kirche. Er zweifelte die Priesterkirche an und machte Jesus, analog zum „Antichristen“ Friedrich Nietzsches zu einem „heiligen Anachristen“. Nach dem Ende seiner priesterlichen Karriere arbeitete Holl als Autor und Publizist (mittlerweile mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet), moderierte den Club 2 und reiste für Fernsehanstalten um die Welt, um von den Weltreligionen zu berichten.

In den Siebzigerjahren war Holl ein Unruhestifter, heute spüre ich davon nichts mehr. Seine Wohnung verströmt die Aura redlicher Gelehrsamkeit. Dicke Teppiche bedecken den Flur, in Wandnischen Bücherregale, vollbestückt mit Enzyklopädien, philosophischen und religionswissenschaftlichen Werken. Im Bürozimmer vier Ledersessel, die ein Stehtischchen umgeben, darauf liegen Zeitungen und Magazine. Zum Fenster hin der Schreibtisch, in feinster Ordnung, daneben ein kleinerer Tisch, darauf eine Schreibmaschine, darüber gespannt ein Staubtüchlein. Aber wo ist der Computer, das Modem, der Drucker? Wo das Funkeln und das Glitzern, das Heute und Jetzt?

Ja, die Zeit ist dem „Ex-Kaplan“ entglitten. Er ist ein Gelehrter alter Prägung, der nach wie vor sein Wissen aus Büchern und dem akademischen Diskurs bezieht. Der moderne Intellektuelle schreibt nicht mehr auf der Schreibmaschine, er surft, scrollt und mailt. Holl weiß das, aber ihn stört es nicht, dass er hier nicht mehr mithalten kann. Im Gegenteil: Er ist froh darüber, nicht mehr überall mitmachen zu müssen. Die Ozeane des Wissens sind indes nicht tiefer geworden, viel größer erscheint hingegen die Gefahr, in der unüberschaubaren Menge an Daten und Informationen der Internet- und Computerwelt an der Oberfläche stecken zu bleiben. Doch neulich wurde ich von einer SMS überrascht, die von Holl kam. Ganz ohne die neuen Medien und Kommunikationsmitteln lebt also auch er nicht.

„Wer zweifelt, der denkt.“ Gesagt hat das Ludwig Wittgenstein, gefunden habe ich das Diktum in Holls 2009 erschienenem Buch „Wie gründe ich eine Religion“. Das „Höhere“ könne er, so der Philosoph weiter, mit Worten nicht ausdrücken. Deshalb könne er sich gut eine Religion ohne Lehrsätze vorstellen, eine Religion, in der überhaupt nicht gesprochen wird. Bereits in „Jesus in schlechter Gesellschaft“ wurde Wittgenstein zitiert: „Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“

Der Zweifel war und ist die Haupttriebfeder in Holls Leben: da steht zum einen „der Schock eines jungen Priesters, der zu seiner Bestürzung entdecken musste, dass sein Amt mit den wahren Absichten seines geliebten Meisters wenig zu tun hatte“ („Jesus in schlechter Gesellschaft“), zum anderen sein Verstand, der ihn zwar zu dieser Erkenntnis geführt hat, jedoch kläglich scheitert, wenn es darum geht, Antworten auf das große Geheimnis unseres Seins zu finden. Aus diesem Zwiespalt schöpfte Holl die Energie für sein Lebenswerk. Es umfasst über dreißig Bücher.

Einladung zur Bilanz#

Auch ich war getrieben vom Zweifel, als ich 2004 Holl anrief und ihn einlud, nochmals in den Bregenzerwald zu kommen. Diesmal aber, um Bilanz zu ziehen. Holl kam nicht mehr mit dem Zug, sondern mit dem Flugzeug. Auch trachtete niemand mehr danach, ihn auf der Straße abzufangen. Der Lokalzeitungen kündigten lediglich mit einer kurzen Notiz die Veranstaltung an, und als Holl den Saal betrat, waren nicht 300 Personen anwesend, sondern nur fünfzig. Er strich sich übers Sakko, legte seine Brille ab und begann sein Referat zu verlesen: „Falls ich Papst werden sollte, müsste ich zuerst einmal zum Kardinal ernannt werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist das eher unwahrscheinlich.“ Vor dreißig Jahren wären bereits da die ersten Fäuste gehoben worden, jetzt gab es weder Raunen noch Räuspern.

Holl ließ sein Leben Revue passieren, sprach von der Befreiungstheologie, vom Ende des Kalten Kriegs und des Kommunismus, vom muslimischen Erwachen und natürlich von der 68er-Bewegung. Die Bilanz in Bezug auf die einstigen Ideale war wenig ermunternd: „Eigentlich müsste ich wie ein verbitterter Mensch vor Ihnen stehen (...). Jedoch mich wunderts, dass ich so fröhlich bin“. Er habe Glück gehabt, alles, was er unternommen, habe ihm Freude bereitet: Das Marschieren als „strammer Pimpf“ im deutschen Jungvolk, die Jahre unter Gleichgesinnten im Priesterseminar, die Aufbauarbeit der Katholischen Jugendarbeit, auch das Redenschreiben für Kardinal König. Im Nachhinein sei er dem Kardinal sogar dankbar, dass er ihn 1973 freigestellt habe („der Petersplatz in Rom lockt mich nicht mehr“). Seine Bücher hätten Erfolg gehabt, er habe eine Lebensgefährtin gefunden, mit der noch immer zusammen sei.

Aber die äußerlichen, weltlichen Dinge und Erfahrungen, die kommen und gehen, was sind sie im Vergleich zum Glauben? Ich habe Holl immer als einen gutgelaunten, ausgeglichenen Menschen wahrgenommen, der über sich selbst und sein Tun lächeln kann, weil er um die Grenzen der Gelehrsamkeit weiß.

Aber in punkto Glauben ist mir dieser Mensch etwas fremd geblieben. Warum schreibt jemand so viele Bücher über Gott und die Religionen, wenn er weiß, dass er mit Buchstaben das Geheimnis nie wird lüften können? Warum legt er nicht wenigstens einmal seinen Gelehrtenmantel ab, verlässt die Stadt und lässt seine Sinne nach dem Einzigartigen suchen? Adolf Holls Worte versprühen ohne Zweifel Übersinnlichkeit, aber manchmal habe ich das Gefühl, er glaube immer noch, mit seinem Verstand irgendwann die vielen dunklen Ecken ausleuchten zu können. Wir werden ja sehen. Vorerst sei ihm zum 80. Geburtstag herzlich gratuliert.

Im Rahmen des Symposiums "Adolf Holl-Disputation" (25. Mai bis 27. Mai 2010) wurde eine Neuerscheinung vorgestellt:
"Das Adolf Holl Brevier. Kritische Andachten" zusammengestellt von Walter Famler. Residenz Verlag St. Pölten 2010, 223 Seiten, 19, 90 Euro.

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Georg Sutterlüty, geboren und aufgewachsen in Egg in Vorarlberg, ist freier Journalist und Historiker, Schwerpunkte: Lateinamerika, Vorarlberger Regionalgeschichte.

Wiener Zeitung, Samstag, 8. Mai 2010