Aufklärung zu Ende denken #
„Der“ Islam ist „gewalttätig“; es geht um „die europäischen Werte“ oder „die Aufklärung“: Ein Plädoyer, aktuelle Schlagwörter zu hinterfragen. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 23. Juli 2015)
Von
Georg Cavallar
In Zeiten der Bedrohung durch den globalen Terrorismus von Seiten islamistischer Fundamentalisten von Kanada bis Australien, von Paris über den IS in Syrien bis zu Boko Haram in Nigeria berufen sich viele Intellektuelle in den europäischen Gesellschaften gerne auf die Werte der Aufklärung. Ein jüngstes Beispiel ist Michael Ley, der in seinem Buch „Der Selbstmord des Abendlandes. Die Islamisierung Europas“ erneut die Unvereinbarkeit von Islam und Moderne betont und vor dem Suizid Europas warnt, der nur durch die zivilisatorische Rückbesinnung auf die „europäischen Werte“ des Humanismus und der Aufklärung vermieden werden könne (siehe auch „Islamisierung Europas: Nein, ich habe keine Visionen“, Die Presse, 19. 6. 2015).
In meinen Überlegungen geht es nicht um eine Relativierung des Mordens im Namen Allahs, sondern darum, dass die eigenen Werte, auf die sich viele in den westlichen Gesellschaften berufen, wie etwa Aufklärung oder Autonomie, oft gar nicht definiert werden und zu Schlagwörtern verkommen sind. Es gilt, ihren Sinn wiederzugewinnen: nicht deswegen, um eine bessere „Waffe“ im Kampf gegen den Fundamentalismus und Extremismus zu haben, sondern vor allem deshalb, um das Programm der reflexiven (Spät-)Aufklärung über Aufklärung zu verstehen, das seit über 200 Jahren auf eine umfassende Verwirklichung wartet.
Aufklärung jenseits von Säkularisierung #
Aufklärung wird in den Debatten meist verkürzt mit Säkularisierung gleich gesetzt. Die Vielfältigkeit der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert macht einfache Klischees und Etikettierungen unmöglich. Ihr gemeinsamer Nenner ist das kritisches Hinterfragen, das Selberdenken und die systematische Suche nach den Grenzen der Erkenntnis. Die selbstreflexive Spätaufklärung vor allem im deutschen Sprachraum betreibt dann Aufklärung über die Aufklärung: es ging nicht nur um die Destruktion von Aberglauben und Vorurteil, sondern um die Aufhebung von Scheinwissen, ohne ein neues Scheinwissen an seine Stelle treten zu lassen. Ziel war bei Vertretern wie Johann Joachim Spalding, Jean-Jacques Rousseau oder Immanuel Kant die „wechselseitige Selbstbeschränkung von Wissen und Glauben“ (Günter Zöller). Nur bei der kleinen Gruppe der atheistischen Materialisten in Frankreich fiel Aufklärung mit Säkularisierung zusammen – was von der überwiegenden Mehrheit der Aufklärer massiv abgelehnt wurde.
Ein Erbe der Aufklärung #
Aufklärung ist – erstens – Kritik, vor allem aber Selbstkritik, nämlich die kritische Prüfung der eigenen Vorurteile, Denkmuster und Voreingenommenheiten, weiters die Bereitschaft, die Perspektive von anderen einzunehmen. Kant nannte das die „erweiterte Denkungsart“. Kernaufgabe in der gegenwärtigen Diskussion wäre es daher auch, Schlagwörter und vermeintliche Selbstverständlichkeiten wie etwa „die Aufklärung“ oder „die europäischen Werte“ zu hinterfragen und auf ihren Gehalt zu untersuchen.
Aufklärung ist – zweitens – ein nicht abschließbarer und ergebnisoffener Prozess. Lessing formulierte das so: Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir „Wähle!“ – ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: „Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein!“ Die „europäischen Werte“ sind deshalb nicht einfach als fertige Möbelstücke zu haben. Pathetisch formuliert (und als neuplatonische Phrase im Schulunterrichtsgesetz gerne belächelt) geht es um die permanente Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen, die nie als Besitz, sondern immer nur als regulative Ideen zu haben sind – ansonsten verkommt Aufklärung zur Ideologie jener, die die Macht haben, Meinungen zu manipulieren.
Wenn sich eine Gesellschaft selbst aufklärt bedeutet das drittens, zusammen mit anderen das eigene Urteilsvermögen zu kultivieren, zu differenzieren und Grenzen zu ziehen. Differenzierungen sind etwa zwischen Demokratie und Rechtsstaat, zwischen den vielen Formen des Islam, zwischen Radikalität und Extremismus sinnvoll. Bei Diskussionen über „den“ Islam gibt es eine Tendenz zum Essenzialismus: fallweise ist vom „radikalen“ Islam oder vom „Scharia-Islam“ im Gegensatz zum „Reform-Islam“ die Rede, letzterer wird aber dann doch wieder als „in Wirklichkeit“ ebenfalls radikal abgelehnt. Auffallend ist in der gegenwärtigen Diskussion weiters der sorglose, undifferenzierte Umgang mit kausalen Erklärungsversuchen. „Der Islam/der Koran führt zu Gewalt und Terrorismus“ oder „die Ursache der Gewalt liegt in der sozialen Deklassierung der Muslime“ – so oder ähnlich wird monokausal und spekulativ behauptet. Kann ich nicht auch menschliche Aggressivität schlechthin, psychosoziale Probleme bei der Integration etc. als Ursachen anführen? Oder vielleicht gibt es ein Bündel von Ursachen? Vielleicht können wir „die Ursache“ letztlich nicht wirklich wissen, und wir können nur Vermutungen anstellen? Oder haben jene Untersuchungen recht, die behaupten, dass die meisten Dschihadisten „religiöse Analphabeten“ sind, die von islamischer Theologie wenig Ahnung haben, dann eigentlich radikalisierte Kriminelle wären?
Aufklärung kann – viertens - nur philosophische Aufklärung sein, da sie immer mit dem Mut zum Selberdenken zu tun hat, mit dem Mut, den Fallen aufzuspüren, in die das eigene Denken tappen kann. Siehe die Gefahr des Essenzialismus: „der Islam“ ist dann „gewalttätig“ (manchmal schwingt mit, dass „unsere Moderne“ friedlich ist – das war und ist sie aber nie gewesen). Richtig verstandene Aufklärung ist damit vor allem eines, nämlich anstrengend, weshalb auch Kant etwas zynisch anmerkte: Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich ein Gewissen hat, einen Arzt, der für mich Diät beurteilt, und so weiter, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. In unseren Breiten ist bei vielen offenbar das Internet an die Stelle des Buches, die Boulevardpresse und die Berieselung durch das Fernsehen an die Stelle des Seelsorgers getreten. Und wir werfen dann Muslimen vor, sie hätten nie eine Aufklärung gehabt?
Die Dimension der Selbsterkenntnis #
Die reflexive Aufklärung ist, wie Alex Hutter betont hat, eine „Aufklärung der Aufklärung“. Sie reagierte auf eine Gefahr, die in jeder unreflektierten Aufklärung des bloßen Unwissens angelegt ist, nämlich auf die Gefahr, durch die bloße Anhäufung von Einzelkenntnissen, die sich in kein verantwortbares Wissen mehr integrieren lassen, eine neue Unmündigkeit zu befördern. Eine solche Unmündigkeit, die durch die blinde Wissensakkumulation einer unreflektierten Aufklärung überhaupt erst möglich wird, droht den eigentlichen Zweck der Aufklärung, die reflexive Dimension der Selbsterkenntnis, wieder zu vergessen oder aus den Augen zu verlieren. Rousseau hat diese Gefahr – so Rainer Enskat – wohl am schärfsten gesehen, nämlich als Gefahr einer defizienten Aufklärung durch Wissenschaft, an dessen Stelle er die Aufklärung durch Urteilskraft setzte.
Wie können wir von Muslimen Aufklärung erwarten, wenn wir diese selbst – zumindest teilweise – nicht zu Ende gedacht, aufgegeben, vielleicht sogar verraten haben?
Der Autor ist Lehrbeauftragter an der Uni Wien und Lehrer am Wasagymnasium
Kant’s Embedded Cosmopolitanism History, Philosophy and Education for World Citizens.
Von Georg Cavallar.
De Gruyter 2015. 215 Seiten, geb., €102,80