Füchtlingslager Gmünd: "Mildherzige Teilnahme"#
Vor 100 Jahren schloss das niederösterreichischen Lager seine Pforten. Es funktionierte nach einfachen, aber klaren Regeln.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 21. November 2019
Von
Wolfgang Ludwig
Die Kriegshandlungen, im Besonderen die russische Offensive im Herbst 1914, zwangen zehntausende Zivilisten, darunter viele Ruthenen, Bukowiner und Polen, aus dem Gebiet der heutigen Ukraine und benachbarter Gebiete zur Flucht. Auch in den Jahren 1915 und 1916 kam es zu größeren Fluchtbewegungen aus dem Osten. Das Kriegsministerium versuchte, diese Menschen in neu errichteten Lagern im Hinterland unterzubringen. Diese Lager sollten an leistungsfähigen Verkehrslinien gelegen sein - und eine Möglichkeit der Verpflegung und Wasserversorgung sollte gegeben sein. Viele Orte in Österreich winkten ab und wollten absolut keine Flüchtlinge aufnehmen.
In einigen Gemeinden konnten auf Drängen der Statthalter (zu vergleichen mit heutigen Landeshauptleuten) Barackenlager errichtet werden. Auf dem Gebiet des heutigen Niederösterreich entstanden im Laufe des Krieges schließlich mehr als 50 Flüchtlingslager - das größte davon in der Stadtgemeinde Gmünd.
Einfache Ausstattung#
Anfang Dezember 1914 lagen die rechtlichen Genehmigungen für die Errichtung eines Flüchtlingslagers südlich von Gmünd vor. Nun musste es vor allem schnell gehen. Unter dem späteren Stadtbaumeister, dem Wiener Johann Fürnsinn, wurden auf einem rund 550.000 m2 großen Areal nach einem rechtwinkeligen Bebauungsplan Holzbaracken errichtet. Bereits im Jänner 1915 konnten die ersten Flüchtlinge in die Unterkünfte einziehen, was zweifellos eine logistische Meisterleistung war. Im September 1915 bestand das Lager aus 120 Wohnbaracken (später wurden es 144) für jeweils 250 Flüchtlinge - insgesamt war also Platz für 30.000 Personen.
Diese Belegungszahl wurde aber immer wieder überschritten. Dazu kamen noch Baracken für Verwaltung, Versorgung, Schule, Kirche sowie Wohnraum für Verwaltungspersonal, Lagerräume und Stallungen. Jeder Baracke stand ein Barackenaufseher vor. Die meisten Bewohner waren Ukrainer, aus dem Süden kamen auch Kroaten und Slowenen.
Die Ausstattung der Unterkünfte war sehr einfach: Die Flüchtlinge schliefen, getrennt nach Geschlechtern und Familien, auf Holzpritschen und Strohsäcken. Nur "höher gestellte Flüchtlinge", das waren Akademiker und Fachkräfte, wurden in einer etwas später errichteten "Villenkolonie" untergebracht. Alle Unterkünfte hatten elektrischen Strom, es gab Abwasserkanäle zu einer Kläranlage. Nur die Heizmöglichkeiten waren mangelhaft. Viele der Flüchtenden waren im Lager mit diversen Tätigkeiten beschäftigt, andere konnten außerhalb arbeiten. Es gab auch einige, die in die Altstadt Gmünd betteln gingen.
Große Bedeutung kam dem Lagerspital zu. Aufgrund des dichten Zusammenlebens, der Winterkälte und der mangelhaften Hygiene breiteten sich häufig Erkrankungen und Seuchen aus. Das Lagerspital kam daher auf die beachtliche Zahl von 2400 Betten. In den Jahren 1915 bis 1917 gab es 4400 Seuchentote, im selben Zeitraum starben 484 Säuglinge an Masern. Bis zum Ende des Krieges starben rund 30.000 Menschen im Lager, nicht nur an Seuchen, auch an Unterernährung, da es oft zu wenig Nahrungsmittel gab.
Die "Gmünder Zeitung" berichtet 1915 anlässlich eines Besuchs des Innenministers aus Wien von einer "Zusammenrottung slowenischer Flüchtlinge", die auf die schlechten Zustände im Lager aufmerksam machen wollten. Eine Demonstrantin, die mit einer Schere Gendarmeriebeamte bedrohte, wurde festgenommen.
Die meisten Verstorbenen wurden am Lagerfriedhof, der heute ein Park ist, beerdigt. Gedenksteine erinnern an die tragische Geschichte des Ortes.
Schule im Lager#
Die Lagerschule war fünfklassig und hatte bis zu 21 Klassen für jeweils 50 Schüler und Schülerinnen, die auf Ukrainisch mit Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wurden. Die Schüler erhielten jährliche Zeugnisse. Im Jahr 1916 berichtete die "Gmünder Zeitung" von einem Ereignis in der Schule: Im Werkunterricht fertigten Schulkinder ein Gobelinbild an, das dem Kaiser huldigend gewidmet war. Doch konnte man dem Kaiser eine solche Ehrung nicht so einfach schicken. Man musste in der kaiserlichen Kabinettsdirektion anfragen, ob Seine Majestät gewillt wäre, die Huldigung anzunehmen.
Die Kabinettsdirektion beantwortete die Anfrage positiv: Der Kaiser wäre zur Annahme bereit. Offenbar war er von der Gabe angetan und spendete 100 Kronen (entspricht heute ungefähr 200 Euro) für die ukrainische Jugend der Flüchtlingsschule. Das Pförtnerhäuschen des ehemaligen Spitalstraktes, später als Trafik genutzt. Dahinter ein Wohnneubau. - © Ludwig
Die Bevölkerung von Gmünd hatte, außer durch Zeitungsmeldungen und Einberufungen, keinen direkten Kontakt mit dem Krieg. Die Ankunft der Flüchtlinge änderte das Bild und brachte eine Andeutung von den Problemen und dem Leid der Zivilbevölkerung in die niederösterreichische Kleinstadt. Teile der Bevölkerung aus dem Bezirk Gmünd profitierten sogar von der Anwesenheit der Flüchtlinge im Lager durch Aufträge und Lieferungen.
Die lokale Presse zeichnete ein vielschichtiges Bild vom Verhältnis der Bevölkerung zum Lager und berichtete vom Alltagsleben der Flüchtlinge. Bereits zu Beginn der Flüchtlingswelle, am 28. November 1914, berichtet der "Waldviertler Bote" von den schweren Entbehrungen der Heimatlosen, die bei der Bevölkerung "allgemeines Interesse und mildherzige Teilnahme" erweckten. Die Bewohner brachten "bereitwilligst (...) Gewand und Essen, um die schwere Not der Heimatlosen (...) zu lindern."
Die Flüchtlinge kamen oft in der Nacht mit Zügen am Bahnhof Gmünd (heute České Velenice) an, verbrachten die Nacht in den Warteräumen am Bahnhof und wurden am nächsten Tag zum zwei Kilometer entfernten Lager geleitet, wo sie dann zu Beginn der Amtsstunden registriert wurden.
1915 schreibt die "Gmünder Zeitung" in ihrer 29. Ausgabe über den Unmut der lokalen Bevölkerung, die gleichen Warteräume und Abortanlagen wie die Flüchtlinge benutzen zu müssen, wobei die Seuchengefahr als Grund genannt wird.
Ebenfalls 1915, vor Errichtung einer Kläranlage, berichtet dasselbe Blatt von einer Beobachtung, "dass das Wasser des Lainsitzflusses riecht, infolge eines offenen Kanals, der die Abflusswässer aus dem Barackenlager in die Lainsitz führt". Der Artikel weist auf "eine riesige sanitäre Bedrohung unserer Bevölkerung" hin.
Schmalspurbahn#
Natürlich kam es im Lager auch zu Diebstählen und Raufereien, was ebenfalls Eingang in die Medien fand. Eine vage Vorstellung der Verzweiflung vieler Insassen vermitteln immer wieder Berichte von Neugeborenen, die abgelegt und nur mehr tot gefunden wurden. Aber auch kuriose Vorfälle werden berichtet: Im Lager gab es eine schmalspurige Versorgungsbahn, die Güter vom Bahnhof zu den einzelnen Baracken brachte. Diese wurde von eingeschulten Flüchtlingen bedient. Auf Jugendliche, die in ihren Heimatorten keine Bahn kannten, übten diese kleinen Züge offenbar eine besondere Faszination aus.
1915 wurden, so berichtet die "Gmünder Zeitung", vier ruthenische Flüchtlinge vom "hiesigen Bezirksrichter" zu vierundzwanzig Stunden Arrest verurteilt, da sie trotz Verboten die kleine Bahn unbefugt in Betrieb genommen und als Passagiere benutzt hatten und diese "durch unvorsichtiges Fahren bzw. Bremsen (...) zum Entgleisen brachten".
Eigentlich war das Barackenlager mehr eine eigenständige Stadt als ein einfaches Lager, da es eine gut ausgebaute Infrastruktur besaß. Neben Versorgungs- und Bildungseinrichtungen gab es auch eine Postdienststelle, eine Kirche, einen Gendarmerieposten sowie Freizeit- und Kultureinrichtungen.
Besonders die Musik spielte im Lagerleben eine große Rolle. Die "Musiker- und Sängervereinigung im ukrainischen k.k. Barackenlager in Gmünd" entwickelte zahlreiche Aktivitäten und brachte unzählige Vorstellungen zustande. Der erwähnte Baumeister des Lagers, Hans Fürnsinn, auch ein großer Musikliebhaber, war in dieser Vereinigung tätig und hatte längere Zeit die Leitung inne.
Für Erwachsene, die nicht im Lager arbeiten konnten, wurden "Beschäftigungskurse" und bei Bedarf Alphabetisierungskurse angeboten.
Ab Sommer 1915 gab es sogar ein Kino im Lager, das zwar ohne Konzession arbeitete, aber von der Behörde geduldet wurde.
Das Ende des Lagers#
Mit Ende des Krieges dachte man, dass auch der Zweck des Lagers obsolet sei, da die meisten Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückkehrten. Doch durch die neue Grenzziehung kamen viele Deutschsprechende aus den nunmehr tschechischen Gebieten nach Gmünd und brauchten Wohnraum, den sie vorerst auf dem Lagergelände fanden.
Teile des Lagers wurden ab 1919 als Lehrlingserholungsheim genützt. Die Stadt Gmünd, in der es bisher kein Spital gab, kaufte einige Baracken und Personalhäuser des Lagers auf und eröffnete im November 1919 ein kleines Krankenhaus. Bisher mussten Kranke aus Gmünd mit der Feuerwehr in andere Krankenanstalten gebracht werden.
Große Teile des Lagerareals wurden für Wohnzwecke, meist Substandard, umgebaut und als Industrieflächen genutzt.
Einige wenige Reste des alten Lagers sind heute noch zu sehen, wie etwa das Eingangstor und einige Baracken, die nach Renovierungen für gewerbliche Zwecke genutzt werden. Der ehemalige Lagerbereich heißt heute Gmünd Neustadt und ist in erster Linie Wohngebiet.
Seit einigen Jahren beschäftigt sich eine engagierte Gruppe rund um Manfred Dacho, früher Stadtamtsdirektor, Franz Drach, Geschichtsprofessor i.R. an der Handelsakademie, und den Stadtarchivar Harald Winkler mit Unterstützung der Stadtgemeinde mit der Aufarbeitung der Lagergeschichte. Im Mai 2019 wurde in einem der Häuschen des Eingangstores mit EU-Förderung ein kleines Museum eröffnet, das die Geschichte des Lagers und das politische und historische Umfeld sehr anschaulich dokumentiert.
Hinweise:#
- M. Dacho, F. Drach, H. Winkler: Am Anfang war das Lager. Verlag Bibliothek der Provinz, 2014.
- Haus der Zeitgeschichte, Gmünd: Weitraer Str. 107; geöffnet Mai bis September. Infos: https://www.gmuend.at/de/Haus_der_Gmuender_Zeitgeschichte
Wolfgang Ludwig, geboren 1955, unterrichtet in Wien und schreibt Kulturreportagen.