"Zeit ist Leben" statt "Zeit ist Geld"#
Zur aktuellen Zuspitzung der Mensch-Natur-Beziehung in der Globalisierung.#
Von der Wiener Zeitung (13. August 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Fritz Reheis
So viel Wissenschaft war selten. Virologen sagen uns, wie gefährlich die Lage ist, Ökonomen, was der Lockdown kostet, Sozialwissenschafter, wer was zu verkraften hat. Dass die Empfehlungen nicht nur je nach Experte, sondern auch je nach Wissenschaftsdisziplin voneinander erheblich abweichen, zeigt sich täglich. Entscheiden muss die Politik. Ihnen gehe es ausschließlich um das "Allgemeinwohl", beteuern politisch Verantwortliche, wenn ihnen partei- und karrieretaktische Motive unterstellt werden.
Aber was heißt "Allgemeinwohl" eigentlich? Das kann keine Frage des Bauchgefühls sein. Wer politische Verantwortung trägt, kommt ohne verlässliches Wissen nicht aus. Was also tun, wenn die Einzelwissenschaften zu keinem Konsens über das "Allgemeine" kommen? Das "Allgemeine" ist zu groß für die Einzelwissenschaft, es sprengt die Disziplingrenzen des herrschenden Wissenschaftsbetriebs, in dem es zwar hervorragende Experten für Virologie, Ökonomie und Sozialwissenschaft geben mag, aber keine Experten für das allgemeine Wohl.
Was die Politikberatung jetzt also bräuchte, wäre eine Art Vogelperspektive. Sie müsste die Details zu einem Ganzen integrieren. Sie müsste es ermöglichen, das Wohl von Jungen und Alten, Gesunden und Kranken, Armen und Reichen, Arbeitnehmern und Selbständigen, aber auch Gegenwart und Zukunft sowie Nah und Fern gegeneinander abzuwägen. Der gegenwärtig herrschende Maßstab der Ökonomen, das in Geld gemessenen Bruttoinlandsprodukt, taugt dazu nicht, weil es bekanntlich alle und alles über einen Kamm schert.
Anderer Maßstab als BIP#
Läge es nicht nahe, so ein Vorschlag, statt des Geldes, das ja oft in einem Atemzug mit der Zeit genannt wird ("Zeit ist Geld"), probehalber einmal die Zeit selbst ernst zu nehmen, ohne sie gleich auf das Geld zu beziehen? Die Zeit verbindet tatsächlich alle und alles, sie ist universeller und älter als das Geld. Der Blick auf die Zeitlichkeit der Welt könnte uns ohne Umschweife zu jener Beschleunigung führen, die das Virus jäh gestoppt hat. Zeit- und Beschleunigungsforscher wie Karlheinz Geißler (in der "Süddeutschen Zeitung vom 24. April) und Hartmut Rosa (in der "Süddeutschen" vom 23. März) sehen in der "erzwungenen Entschleunigung" deshalb die Chance der Besinnung aufs Wesentliche, auf das, was bisher der Hetzerei im Hamsterrad immer wieder zum Opfer gefallen ist. Eine solche Besinnung ist die zentrale Voraussetzung für jene politischen Weichenstellungen, die gegenwärtig anstehen.
Eine erste Erkenntnis könnte sein, dass der derzeitige Tunnelblick auf Corona der Komplexität der Lage nicht angemessen ist. Es gibt bekanntlich noch andere Krisen, die uns die Globalisierung mit ihrer eigenartigen Beschleunigungsdynamik in den vergangenen Jahrzehnten beschert hat. Eine solche Ausweitung des Blicks könnte zur Frage führen, was dieser Globalisierung eigentlich zugrunde liegt. Bereits 2011, unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, sprach der Soziologe Ulrich Beck, weltweit bekannt durch sein im Tschernobyl-Jahr erschienenes Buch "Risikogesellschaft", in der "Süddeutschen Zeitung" von einem "grusligen Wettbewerb der Großrisiken". Beck erinnerte damals im Kontext der Reaktorkatastrophen an die durch einen Hurrikan verursachte Überflutung von New Orleans und die Finanzkrise, aber auch den Rinderwahnsinn und die Schweinegrippe. (Er hätte im Übrigen auch, mit Blick auf Europa, die zigtausend Hitzetoten von 2003 und die zigtausend Toten infolge von Infektionen mit antibiotikaresistenten Erregern in seine "Gruselliste" aufnehmen können, aber auch die jährlich Millionen Hungertoten weltweit.) Er führte die Krisen seiner Gruselliste auf eine Form der "Modernisierung" der Welt zurück, bei der etwas schieflaufe, weil sie sich selbst nicht begreife.
Heute sind es neben der Corona-Krise die Klima- und die Flüchtlingskrise, die uns zu schaffen machen. Vor allen drei Krisen wird seit Jahrzehnten gewarnt, alle drei erfassen den gesamten Globus und erfordern deshalb globale Antworten, alle drei spitzen sich wie aus heiterem Himmel urplötzlich zu. Besonders beunruhigend ist: Alle drei Krisen haben das Potenzial, sich wechselseitig zu verstärken. Als vierte Krise ist natürlich die Wirtschaftskrise (inklusive einer zu erwartenden Finanz- und Staatsschuldenkrise) zu nennen, die heute schon den Ruf nach einem klimapolitischen Moratorium und gigantischen Abwrackprämien laut werden lässt.
Bemerkenswert ist, dass Aufmerksamkeit, Verantwortung und Maßnahmen zur Krisenbewältigung bisher je nach aktueller Zuspitzung hin und her geschoben werden. Wir müssten nach dem inneren Zusammenhang dieser Krisen fragen, danach, was es genau ist, was bei der Modernisierung der Welt bisher nicht begriffen wurde. Alle vier Krisen sind ja tatsächlich keine Meteoriteneinschläge. Jetzt, nachdem der rasende Globalisierungszug nahezu zum Stillstand gekommen ist und die Spaßgesellschaften im globalen Norden pausieren müssen, stellen sich zwei Grundsatzfragen in aller Schärfe: Was treibt die Globalisierung eigentlich so an? Und gibt es dazu überhaupt eine Alternative?
Zur ersten Frage könnten wir uns bewusst machen, dass sich der Mensch erst seit wenigen Generationen der Logik von Markt, Geld und Kapital anvertraut hat. Wir könnten feststellen, wie sehr die Exponentialkurven der Dynamik des Geldes jenen von Viren - wie auch Bakterien, Tumorzellen und Metastasen - ähneln. Wir könnten klar erkennen, warum exponentielle Veränderungen so gefährlich sind. Und wir könnten uns an Aristoteles erinnern, der bereits vor mehr als 2000 Jahren wusste, dass Geld niemals Selbstzweck, sondern immer nur Mittel zum Leben sein dürfe.
Kampf um Temposteigerung#
Das Problem einer durch Markt, Geld und Kapital angetriebenen Globalisierung ist die Formel "Zeit ist Geld". Sie stürzt den Globus in einen gnadenlosen Konkurrenzkampf um die möglichst rasche Verwandlung aller natürlichen und menschlichen Ressourcen in Geld. Der Kampf um Zeiteinsparung und Temposteigerung, der notwendigerweise mit einer fahrlässigen Verkürzung des Zeithorizonts einhergeht, führt auch jetzt dazu, dass jeder Akteur mit möglichst wenig Ballast für Gesundheits-, Klima- und Armutsprävention unterwegs sein und so spät wie möglich abbremsen will, auch um so früh wie möglich wieder durchstarten zu können. Alles konsequent just-in-time.
Kein Wunder, dass viele tödliche globale Gefahren aus Ländern stammen, die als Nachzügler der Industrialisierung noch mit aller Macht auf den rasenden Globalisierungszug aufspringen wollen und deshalb besonders risikoaffin sind. Und kein Wunder, dass sich die Langsameren weniger gut gegen Krisen wappnen können, in Europa und der restlichen Welt. Gehen wir also auf der Suche nach Leitplanken für eine alternative Globalisierung einmal nicht vom Geld, sondern von der Zeit aus. Welche Geschwindigkeit ist der Globalisierung angemessen? Welches Veränderungstempo verkraften natürliche Umwelt, soziale Mitwelt und einzelner Mensch?
Versuchen wir es statt mit der Formel "Zeit ist Geld" mit "Zeit ist Leben", also mit einer zeitökologischen Perspektive. Dann geht es nicht darum, ob sich etwas rechnet, sondern ob Ereignisse und Prozesse auch zeitlich zueinander passen. Im Kern geht es um Synchronisation, genauer: um Resonanz. Was neu entsteht, muss immer in Einklang kommen mit dem bereits Vorhandenen. Das Neue muss also mit dem Alten schwingen. Schwingungen sind periodische Auf- und Abwärtsbewegung, die letztlich auf Kreisläufen beruhen. Eigentlich weiß jeder, wie stark auch wir Menschen auf Resonanz angewiesen sind: in Bezug auf natürliche Umwelt, soziale Mitwelt und eigene Innenwelt. Behandeln wir die Natur pfleglich, erwarten wir einen sicheren Raum zum Leben und dass sie uns gut ernährt. Teilen wir uns anderen mit, erwarten wir, verstanden zu werden. Strengen wir uns an, erwarten wir Anerkennung. Lieben wir, erwarten wir Gegenliebe. Und bei Entscheidungen und Handlungen wollen wir hinterher mit uns im Reinen sein, soll es stimmig sein. Immer soll etwas zurückkommen, wenn wir etwas angestoßen haben. Ob das aber geschieht, ist nie ganz sicher. Resonanz ist letztlich "unverfügbar" (Zitat Hartmut Rosa), weil viel zu viele Voraussetzungen im Spiel sind, die wir kaum je alle im Blick, erst recht nicht im Griff haben. Resonanz lässt sich also nicht erzwingen, nur erleichtern.
Die kurze Geschichte der kulturellen Evolution des Menschen beweist, dass er sein Eingreifen in die Welt auch begreifen kann. Aufgrund dieser wahrhaft fundamentalen Resonanz ist der Mensch, mehr als jede andere Spezies, auf ständiges Lernen angewiesen, aber auch dazu befähigt - ein beispielloses Resonanzpotenzial, das uns Mut machen könnte. Wo Resonanzen trotz allen Bemühens um Synchronisation ausbleiben, drohen böse Überraschungen: in uns selbst, wenn wir etwa aufgrund dauerhafter Überforderung ausbrennen; im sozialen Miteinander, wenn jene, die dauerhaft nicht gehört und beteiligt werden, plötzlich ausrasten; in der Umwelt, wenn die dauerhaft geschundene Natur "zurückschlägt" - durch Hochwasser und Dürre, Unfruchtbarkeit, Artenschwund und eben auch Viren. Wenn wir den Lebensraum von Tieren zu sehr einengen, uns gegen die von ihnen ausgehenden Gefahren zu wenig schützen und diese Gefahren obendrein zu schnell in alle Welt verbreiten, zeigt die Natur der Spaßgesellschaft, dass der Spaß zu Ende ist. Dann bleibt uns nur noch die Alternative zwischen einem kurzen, aber radikalen oder einem langen, relativ milden Lockdown mit mehreren Wellen der Wiederkehr des Virus.
Was "zurückschlägt", ist aber nicht die Natur selbst, sondern unser fehlgeleiteter Umgang mit ihr: bei Virenkrisen die Zurückdrängung des Lebensraums der Tiere, bei der Klimakrise die Plünderung der Kohlenstofflager der Erde, bei der Flüchtlingskrise das Zulassen und Fördern von Lebensbedingungen im globalen Süden, die Millionen Menschen bei uns Schutz und neue Lebensgrundlagen suchen lassen. Fehlgeleitet wird der Umgang mit Natur und Mitmensch durch eine geldgetriebene Globalisierung, die Räume systematisch ausdehnt und verdichtet, Zeiten und Zeithorizonte systematisch verkürzt - und dabei jedes Maß verloren hat.
Für die Zukunft der Globalisierung brauchen wir eine Art von Resonanzstrategie. Sie muss dafür sorgen, dass Rhythmen und Kreisläufe respektiert werden, die die Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu anderen und zur Natur bestimmen. Nur Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht (exponentielle Veränderungen sind potenziell tödlich). Prinzipien wie Reflexivität, Reziprozität (Wechselseitigkeit) und Regenerativität können konkretisieren, wie Resonanz in Bezug auf Innenwelt, Mitwelt und Umwelt ermöglicht werden kann. Klar müsste auf alle Fälle sein: Der Mensch hat kein angeborenes Recht, seinen eigenen Lebensraum immer mehr auszudehnen, Treibhausgase beliebig in die Atmosphäre zu blasen, Mitmenschen fast ohne Gegenleistung für sich arbeiten zu lassen und sich bei all dem auf ökonomische Sachzwänge zu berufen, die er tatsächlich selbst geschaffen hat. (Er hat aber sehr wohl ein angeborenes Recht auf Arbeit, von der er leben kann, als "zivilisatorisches Minimum", wie Oskar Negt treffend feststellt.)
Zeit nicht Geld unterordnen#
Eine Resonanzstrategie müsste vor allem klare Prioritäten für das menschliche Wirtschaften setzen: Die Finanzwirtschaft dient der Realwirtschaft, die Realwirtschaft dem Menschen, mit all seinen wirklichen Bedürfnissen und echten Fähigkeiten - nicht umgekehrt. Statt in atemberaubender Geschwindigkeit ständig Neues hervorzubringen und Bedürfnisse und (Zusammen-)Leben der Menschen hektisch daran anzupassen, sollten wir uns künftig mehr um die Grundlagen des Lebens, des guten Lebens für alle kümmern: um eine "Ethik des Genug", einschließlich der Vorbeugung gegen Gefahren, die die Natur mit sich bringt, und erst recht gegen jene, die wir selbst erzeugen. Eine Resonanzstrategie könnte uns schließlich zu einem neuen Leitbild für Wohlstand führen, Geld- und Güterwohlstand durch Zeitwohlstand ergänzen und ersetzen.
Eine Resonanzstrategie erfordert also nichts Geringeres als die Umkehrung des bisher herrschenden Verhältnisses von Geld und Zeit. Die Unterordnung der Zeit unter das Geld erweist sich immer klarer als Irrweg. Würden in der gegenwärtigen Krise tatsächlich nicht mehr die Banken, sondern Betriebe des Gesundheits- und Pflegesektors als "systemrelevant" gelten, dann wäre das ein erster Schritt.