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Historische Perspektiven aktueller Familienprobleme#


Von

Michael Mitterauer


Aus historischer Sicht lässt sich feststellen, dass zwischen Familienverfassung und Arbeitsorganisation einer Gesellschaft stets ein enger Zusammenhang bestanden hat. Für Zeiten, in denen familienwirtschaftliche Formen dominierten, ist dieser Konnex offenkundig. Aber auch nach der weitgehenden Durchsetzung individueller Lohnarbeit in der Moderne bleibt in vermittelter Form eine starke Abhängigkeit der Familie von Gegebenheiten der Arbeitswelt bestehen.

Familienfreizeit als Korrelat zu Arbeitszeit, durch Leistungsdruck in der Arbeitswelt verursachter Stress in seiner Rückwirkung auf die Familie, Zwang zu erhöhter beruflicher Mobilität, Unsicherheit durch gefährdete Arbeitsplätze, Verlust der Existenzsicherung durch Arbeitslosigkeit – alles das sind Faktoren, die Familienverhältnisse weiterhin eng an Gegebenheiten der Arbeitswelt binden. So erscheint es sicher angebracht, auch Fragen der zukünftigen Entwicklung von Familie und Arbeit miteinander in Zusammenhang zu diskutieren. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass sich die Entwicklungen der Arbeitswelt in einem zunehmend globalisierten System immer mehr dem Einfluss der Politik von Einzelstaaten entziehen – und damit auch wesentliche Voraussetzungen aktueller und zukünftiger Familienprobleme. Diskussionen über die Zukunft von Familie und Arbeit müssten daher wohl auch auf überstaatlicher Ebene ansetzen. Die klassischen Elemente staatlicher Familienpolitik wie Kindergeld oder steuerliche Begünstigungen stellen nur einen sehr begrenzten Handlungsbereich dar, innerhalb dessen die aktuellen Familienprobleme sicher nicht befriedigend gelöst werden können.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es weltweit, durchaus aber auch in Staaten Mitteleuropas zu tief greifenden Veränderungen von Familienverhältnissen – in einem Ausmaß wie noch nie zuvor in einer historischen Epoche. Die harten Daten der Statistik machen uns die Radikalität dieses Wandels bewusst. Hinter den quantitativen Verschiebungen stehen nicht minder grundsätzliche qualitative. Der starke Anstieg der Lebenserwartung etwa ist ein solcher demographischer Indikator radikalen Wandels. Erstmals in der Geschichte der Familie wäre es heute möglich, dass ein nicht unbeträchtlicher Prozentsatz der Familienhaushalte aus Angehörigen von vier Generationen bestehen könnte. „Urahne, Großmutter, Mutter und Kind“ erleben einander nicht selten. Aber nur ganz ausnahmsweise sind sie durch Haushaltsgemeinschaft miteinander verbunden. Historisch war die Situation ganz anders. Die weit geringere Lebenserwartung ließ ein solches Zusammenleben gar nicht zu. Die angebliche Dominanz von Großfamilienhaushalten, die drei oder vier Generationen umfasst haben sollen, ist ein Mythos, den die familienhistorische Forschung für Mittel- und Westeuropa längst widerlegt hat. Er sollte die ausschließliche Vorsorge für Alte innerhalb der Familie gegenüber anstaltlichen Formen legitimieren. Das Problemfeld inner- bzw. außerfamilialer Altenvorsorge steht heute mit zunehmender Lebenserwartung verstärkt zur Debatte. Die „gewonnenen Jahre“ bedeuten vielfach zunehmende Morbidität. Daraus ergeben sich auch qualitative Veränderungen von Betreuungsleistungen. Soweit Kinder bzw. Schwiegerkinder bereit und in der Lage sind, solche Leistungen zu erbringen, werden sie mit solchen Problemen vielfach in der Schlussphase ihres Arbeitslebens konfrontiert, Verlängerte Lebensarbeitszeit würde diese Situation zusätzlich verschärfen. Großelternpflichten können in dieser Lebensphase hinzukommen – wenn sie durch zunehmende Arbeitsbelastung der Eltern bedingt sind ein zusätzlicher Faktor der Rückwirkung des Arbeitslebens. Alle solchen intergenerationellen Leistungen setzen allerdings örtliche Gemeinsamkeit voraus, die nicht zuletzt durch Entwicklungen der Arbeitswelt immer seltener wird. Sieht man die steigende Lebenserwartung im Kontext neuer Verläufe des Familienzyklus, so zeigen sich vielfältige Probleme, deren Lösung - innerhalb und außerhalb der Familie – innovativ diskutiert werden muss.

Dass die familiäre Fürsorge für alte Menschen zunehmend zu einem prekären Problem werden dürfte, ergibt sich auch aus der stark rückläufigen Entwicklung von Kinderzahlen. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa in mehr als der Hälfte der geschlossenen Ehen vier oder mehr Kinder zur Welt kamen, war das am Ausgang des Jahrhunderts nur mehr bei drei Prozent der Fall. Vom Ersten Weltkrieg bis in die siebziger Jahre nahm die Zweikinderfamilie den Spitzenplatz ein – lange Zeit hindurch die „Normalfamilie“ schlechthin. In der Gegenwart folgen in der Haushaltsstatistik auf die Einzelhaushalte die Paarhaushalte ohne Kinder. Der hohe Anteil von Paaren, die sich grundsätzlich gegen Kinder entscheiden, ist ein historisch völlig neues Phänomen. Unter den Familien mit Kindern nehmen heute die mit einem Kind den ersten Platz ein. Diese soziale Gruppierung ist etwas grundsätzlich anderes als Zwei- oder Mehrkinderfamilien. Es fehlt ihr eine traditionell sehr wichtige Position, nämlich die der Geschwister. Auch diese geschwisterlose Familie ist eine historisch junge Erscheinung. Eine elementare soziale Beziehung wird in ihr nicht erlebt. Ob dieses Defizit in später eingegangenen Beziehungen zu Gleichaltrigen – in der Kinderkrippe, im Hort, im Kindergarten – ausgeglichen werden kann, lässt sich aus historischer Perspektive nicht beantworten. Es kann aus dieser Sicht bloß auf ein Problem aufmerksam gemacht werden, dass die inner- wie die außerfamiliale Erziehung vor neue Aufgaben stellt. Die Frage, ob es sich bei der Tendenz zu weniger Kindern bzw. zum Verzicht auf Kinder überhaupt um einen unumkehrbaren Trend handelt, entzieht sich ebenfalls einer Beurteilung aus der Geschichte der Familie. Zu vielfältig sind die vermuteten Faktoren, die den Geburtenrückgang bedingt haben dürften, als dass man einen einzigen festmachen könnte, der einen entscheidenden Ansatzpunkt für Gegenmaßnahmen böte. Im materiellen Bereich allein liegen die Gründe sicher nicht. Hält der Geburtenrückgang an, so wird zunehmend Zuwanderung an Bedeutung gewinnen. Einige der traditionellen Zuwanderergruppen nach Mitteleuropa haben traditionell höhere Fertilität. Ob solche kulturelle Traditionen dauerhaft beibehalten werden, lässt sich heute noch nicht voraussehen.

Die Familienverhältnisse von Zuwanderergruppen machen bewusst, wie vielfältig Familientraditionen sind, die heute in Gesellschaften Mitteleuropas zusammentreffen. Sicherlich darf man auch die Familienformen der autochthonen Bevölkerung keineswegs einheitlich sehen – die zunehmende Migration bewirkt jedoch diesbezüglich Unterschiede wie nie zuvor in der Geschichte. Historische Migrationsmuster waren von Einzelmigration geprägt, die hauptsächlich in der Jugendphase erfolgte. Demgegenüber hat in der jüngeren Vergangenheit Familienmigration an Bedeutung gewonnen. Historische Zuwanderung ging in der Regel von Einzugsbereichen geringerer Reichweite aus, aktuelle hingegen bezieht Regionen ein, denen gegenüber große kulturelle Unterschiede bestehen. Probleme der Integration von Zuwandererfamilien sind in hohem Maß Familienprobleme. Die Differenzen haben nicht primär religiöse Unterschiede zur Grundlage. Zum „christlich-abendländischen“ Wert der Nächstenliebe etwa bekennen sich orthodoxe Christen aus Südosteuropa oder Muslime aus dem Nahen Osten in gleicher Weise. Gravierende Unterschiede des Familienverhaltens, die sich mitunter in Zuwandererfamilien feststellen lassen, haben andere historische Wurzeln. Das gilt etwa für stark polarisierte Geschlechterrollen, für ausgeprägte Verwandtschaftssolidarität, für Vorstellungen von Familienzusammenhalt, nach denen sich Einzelpersonen der Gruppenidentität unterzuordnen haben. Gerade hinsichtlich der Individualisierung in der Familie ergeben sich vielfach markante Unterschiede. Solche Unterschiede konfrontieren eine engagierte Integrationspolitik mit schwierigen Fragen. Es wird sehr konkret zu durchdenken sein, was die Prinzipien der christlichen Soziallehre –Subsidiarität, Solidarität, Personalität –in Bezug auf Migrantenfamilien zu bedeuten haben. Vielfältige Politikbereiche sind dabei in der Umsetzung solcher Grundsätze gefordert – die Bildungspolitik, die Frauenpolitik, die Sozialpolitik in einem sehr weiten Verständnis und andere mehr.

Werden jene gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen, die die Familienverhältnisse in Mitteleuropa und darüber hinaus im Verlauf des 20. Jahrhunderts so tief greifend verändert haben, in der Zukunft weiter gehen? Sollen sie weiter gehen? Können sie weiter gehen? Die Geschichtswissenschaft kann auf solche Fragen nur partielle Antworten geben. Bei manchen der angesprochenen Entwicklungstendenzen könnte es sich um Übergangsprozesse handeln, die nach einem grundsätzlichen Strukturwandel durch eine Neustabilisierung zum Abschluss kommen. So gilt der Prozess des „demographischen Übergangs“ mit seinen grundlegenden Veränderungen von Natalität und Mortalität nach Meinung mancher historischer Demographen für europäische als abgeschlossen. In der Steigerung der Lebenserwartung werden vielleicht tatsächlich keine wesentlichen Zugewinne mehr zu erreichen sein. Anders verhält es sich mit der Geburtenentwicklung. Die Prognose, dass es nach Abschluss einer Übergangsphase zwischen Natalität und Mortalität zu einem neuen „demographischen Gleichgewicht“ kommen würde, hat sich nicht erfüllt. Die Geburtenentwicklung ging völlig unabhängig von der Sterblichkeit eigene Wege. So hat sich auch im Bereich der Demographie das Modell der Übergangsprozesse nicht überzeugend bewährt. Andere für die neuere Familienentwicklung maßgebliche Prozesse wie Industrialisierung, Urbanisierung, Kommunikationsrevolution, Verkehrsrevolution lassen sich wohl grundsätzlich nicht als Übergangsprozesse verstehen. Man kann sie nicht mit der Erreichung eines neuen Zustands als abgeschlossen sehen. Sicher sind auch ihnen Grenzen gesetzt – durch die Belastung der natürlichen Umwelt, durch die soziale Verträglichkeit, durch die finanzielle Leistungsfähigkeit der öffentlichen Hand. Die Situation in den letzten Jahrzehnten scheint freilich zu zeigen, dass solche Entwicklungen trotz absehbarer Gefährdungen durchaus weitergehen – zum Teil mit einer bisher noch nicht da gewesenen Beschleunigung. In keiner anderen Epoche der Weltgeschichte haben sich solche Rahmenbedingungen des Familienlebens so rasant verändert wie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Ob das Tempo der Beschleunigung des sozialen Wandels weiterhin anhält, wird wohl kaum von den Auswirkungen dieses Wandels auf die Situation der Familien abhängen. Grenzen der Anpassungsfähigkeit von Familien haben im Verlauf der Geschichte nur selten – und wenn so mit großer Verzögerung – auf gesellschaftliche Makrotendenzen zurückgewirkt. Familien sind primär passiv von solchen Tendenzen betroffen. Ihre aktive Rolle als Faktor der Veränderung ist im Vergleich dazu gering. So bedürfen Familien in besonderer Weise einer gesellschaftlichen Vertretung ihrer Interessen. Das gilt nicht nur für Maßnahmen, die traditionell der „Familienpolitik“ zugerechnet werden. Das gilt vielmehr in einem sehr weiten Verständnis für alle jene Rahmenbedingungen, die Familienentwicklungen beeinflussen. Von den jeweiligen Auswirkungen auf Familien her durchdacht mag politisches Handeln in vielen gesellschaftlichen Bereichen eine neue Orientierung erhalten.


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