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Solidarität in einer geschwisterlosen Gesellschaft?#


Von

Michael Mitterauer


Das viel zitierte Schlagwort von der „Familie als Keimzelle der Gesellschaft“ ist falsch. Es stellt eine biologistische Fehlinterpretation sozialer Verhältnisse dar. Außer Streit steht allerdings, dass es Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den Mikrostrukturen der Familie und den Makrostrukturen der Gesellschaft gibt. Familienverhältnisse sind von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. Sozialverhalten, das zunächst in der Familie eingeübt wird, wirkt später in größerem sozialem Kontext weiter. Solidarität in allen Lebensbereichen steht in diesem Spannungsverhältnis zwischen Familie und Gesellschaft. Von der Öffentlichkeit wenig beachtet hat eine elementare Familienbeziehung dramatisch an Bedeutung verloren, nämlich die zwischen Geschwistern. Bis weit zurück in historische Zeiten haben Mehr-Kinder-Familien dominiert. Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert lebten in Mitteleuropa weit über die Hälfte aller Ehepaare mit vier oder mehr Kindern zusammen. Einzelkinder waren selten, ebenso Ehepaare ohne Kinder. Der Anteil der Familien mit vier Kindern und darüber ging allerdings in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark zurück. In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wurden sie von den Drei-Kinder-Familien überholt. Schon damals erreichte die Zwei-Kinder-Familie die höchsten Prozentwerte, die sie bis in die 1970er Jahre hielt. Dann übernahmen die Ein-Kind-Familien die Spitzenposition, in der sie schließlich in den 1980er Jahren von den Ehepaaren ohne Kinder abgelöst wurden. Unter den Ehepaaren mit Kindern nahm die Dominanz der Ein-Kind-Familien weiter zu. Verfolgt man das Absinken der Geburtenzahlen bloß nach Dezimalstellen zwischen 2 und 1, so erscheint die Veränderung nur als ein quantitatives Phänomen. Sie ist aber weit mehr, nämlich ein grundlegender qualitativer Wandel. Geschwisterlosigkeit bedeutet eine neuartige Familiensituation. Mit dem Rückgang zweiter Kinder droht eine wichtige Position im Gefüge der Familie abhanden zu kommen und mit ihr eine wesentliche Beziehungsform. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten sind Familien mit nur einem Kind vom Sonderfall zur Regel geworden. Sprachliche Entwicklungen spiegeln diese veränderte Situation. Zum Unterschied von Einzelkindern werden Kinder, die Geschwister haben, zunehmend als „Geschwisterkinder“ bezeichnet. Der Begriff meinte früher die Kinder von Geschwistern, heute bezieht er sich auf Kinder mit Geschwistern. Auf dem Weg in die geschwisterlose Gesellschaft erscheint offenbar für solche Kinder eine besondere Charakteristik angebracht. So wie die Entwicklung von der Mehr-Kinder-Familie früherer Jahrhunderte zur Zwei-Kinder-Familie des 20. Jahrhunderts durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen verursacht zu sehen ist, so ist es auch die zur Dominanz der Ein-Kind-Familie in der jüngsten Vergangenheit. Im Hinblick auf solche Rahmenbedingungen erscheint der Entwicklungstrend im Wesentlichen unumkehrbar. Auch eine noch so engagiert betriebene pronatalistische Politik wird in Gesellschaften mit einer derart reduzierten Gebürtigkeit keine grundsätzliche Wende herbeiführen können. Zu viele Faktoren stehen der Realisierung von Kinderwünschen entgegen. In der Regel sind Ein-Kind-Familien nicht von vornherein als solche geplant. In vielen Ehen bzw. eheähnlichen Beziehungen wären nach dem Wunsch der Eltern durchaus weitere Kinder erwünscht. Deren Aufwachsen mit Geschwistern erscheint dabei als wesentliches Motiv. Aufschlussreich sind die Gründe, die von Eltern bei Befragungen genannt werden, weshalb sie sich dann doch nicht für ein zweites Kind entschieden haben: Eine angemessene Versorgung und Betreuung eines zweiten Kindes hätte nicht gewährleistet werden können; die Rückkehr in den Beruf bzw. die berufliche Karriere hätten Vorrang gehabt; man hätte sich vom Alter, von der Gesundheit bzw. von den Kräften her der Herausforderung eines weiteren Kindes nicht mehr gewachsen gefühlt; man hätte sich finanziell oder hinsichtlich der Wohnumstände unzumutbar einschränken müssen; der Partner bzw. die Partnerin wäre gegen ein weiteres Kind gewesen; man habe sich nicht dem Druck der Verwandtschaft beugen wollen; man hätte sich als Mutter von mehreren Kindern mit der Einschränkung auf die Rolle der Nur-Hausfrau nicht mehr abfinden können. Alle subjektiven Motivationen dieser Art stehen in größeren ökonomischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen, die von den Ehepaaren als Akteuren kaum beeinflussbar sind. Grundsätzliche Veränderungen der gesellschaftlichen Makrostrukturen zeichnen sich nicht ab. So wird der Trend zu einer geschwisterlosen Gesellschaft höchstwahrscheinlich weiterhin anhalten.

Aus Zeiten, in denen Mehr-Kinder-Familien noch die Regel waren, haben sich viele Vorurteile gegen den Sonderfall Einzelkind erhalten: Einzelkinder seien egoistisch, verzogen, verwöhnt, wehleidig, altklug, frühreif, rücksichtslos, unsozial, schlecht angepasst, kontaktarm etc. Ob solchen Vorurteilen reale Beobachtungen zugrunde lagen, sei dahingestellt. Objektivierbar erscheint der Sachverhalt, dass Einzelkindern eine elementare soziale Erfahrung fehlte und fehlt, nämlich die der Geschwister-Beziehung. Und diese Erfahrung ist nicht durch alternative soziale Bindungen zu ersetzen. Freundinnen und Freunde sind – mögen sie Kindern auch noch so nahe stehen – etwas grundsätzlich anderes als Geschwister. Sie teilen nicht den gesamten familiären Alltag, sie haben ihre eigenen Eltern als primäre Bezugspersonen, sie stehen außerhalb des familiären Kontexts, innerhalb dessen Geschwister aufeinander abgestimmte Rollen finden müssen. Durch ihre familiäre Einbindung haben Geschwisterbeziehungen eine besondere Intimität. Zugleich aber stehen sie unter besonderem Druck. Bei Gleichheit von Herkunft und Erziehung muss individuelle Eigenständigkeit gefunden werden. In der Konkurrenz um Zuwendung und Anerkennung der Eltern kann es zu Aggressionen kommen.

Geschwisterbeziehungen sind in der jeweiligen Gestaltung des Zusammenlebens hochgradig ambivalent. Aber gerade die Notwendigkeit, von früher Kindheit an solche Spannungsmomente bewältigen zu müssen, macht die Geschwisterbeziehung zu einem sozialen Lernfeld einmaliger Art. An Einzelkindern gehen diese sozialen Chancen und Prüfungen der Kindheit vorbei. Die Geschwisterbeziehung ist die am längsten anhaltende Familienbeziehung im Leben eines Menschen. Die Eltern sterben Jahrzehnte zuvor, die eigenen Kinder Jahrzehnte danach. Die Geschwister hingegen erleben eine in etwa parallel verlaufende Zeitspanne. Die Beziehung zu ihnen geht durch sehr unterschiedliche Phasen. Am intensivsten ist sie in der Regel in der Kindheit. In dieser Zeit wird die Persönlichkeitsentwicklung am stärksten durch sie beeinflusst – unterschiedlich nach Rang in der Geschwisterreihe, nach Alter, nach Geschlecht. Auch in der Jugendphase können es Geschwister sein, die den persönlichen Weg in wichtiger Position begleiten – der ältere Bruder etwa, der in die Jugendgemeinschaft einführt, oder die ältere Schwester, die gleichsam mütterlich für jüngere Geschwister sorgt. Die Wege von Brüdern sind in historischen Gesellschaften vielfach auch noch im Erwachsenenalter parallel verlaufen. Das gemeinsame ungeteilte Männererbrecht an Haus, Grund und Vieh hat oft dazu geführt, dass verheiratete Brüder lebenslänglich miteinander wohnten und wirtschafteten. Solche lebenslänglichen Gemeinschaften von Brüdern lassen sich in der Regel aus besondern Formen der Arbeitsorganisation erklären. Vergleichbare Wirtschafts- und Lebensgemeinschaften von Schwestern sind historisch nicht belegt.

Schon in der Antike wurden mit dem Begriff „Brüderlichkeit“ besonders positiv bewertete Formen sozialer Beziehungen charakterisiert. Es mag sein, dass dieses Konzept auf Verhaltensweisen zurückgeht, die in langfristig zusammenlebenden Brudergemeinschaften erforderlich waren. Bereits früh wird der Begriff jedoch in allgemeiner Form gebraucht. Das gilt etwa für die Stoa und ganz besonders dann für das Christentum. Hier wird nicht nur der „Bruder“-Begriff, sondern – ebenso von der Geschwisterlichkeit in der Familie abgeleitet – erstmals auch der Begriff „Schwester“ auf das Gemeindeleben übertragen. Das Vorbild der Bruder- bzw. Schwestern-Beziehungen bildet die Basis für soziale Zusammenschlüsse von nichtverwandten Personen - ein sehr kreatives Moment neuer gesellschaftlicher Entwicklungen, die insbesondere von den Klostergemeinschaften ausgehen. Im Mittelalter entstehen auf der Grundlage von Bruderschaften auch im weltlichen Bereich vielfältige neue Formen des selbst gestalteten Gemeinschaftslebens. Überall wird das von Brüdern innerhalb der Familie erwartete Sozialverhalten als ideale Form des Verhaltens auf größere Personenverbände übertragen. Brüderlichkeit orientiert sich dabei an familiären Grundmustern, wie sie das ganze Leben hindurch Geltung haben sollen. In dieser christlichen Tradition steht auch - obwohl in säkularem Umfeld entstanden – das Brüderlichkeits-Ideal der Französischen Revolution. Gemeinsam mit der „liberté“ und der „egalité“ wurde die „fraternité“ zum Leitbild gesellschaftlicher Ordnung in einem neuen Zeitalter. Dieses Leitbild wirkt bis in die UN-Erklärung der Menschenrechte nach: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“.

Einander im „Geist der Brüderlichkeit“ begegnen – ein Konzept der Familienbeziehung wird bis in die Gegenwart auf übergeordnete soziale Einheiten übertragen gedacht, selbst im globalen Kontext der Menschenrechte. Geschlechtsneutral formuliert würde man heute wohl eher vom „Geist der Geschwisterlichkeit“ sprechen. Aber es ist wichtig, dass die historisch so weit zurückreichende Terminologie in ihrer alten Form an die soziale Wurzel dieses sozialen Prinzips erinnert. Man könnte auch die Formulierung „Geist der Solidarität“ wählen. Für Verpflichtungsdenken in sozialen Großgruppen erscheint uns dieser Begriff heute sicher näher liegend. Der Sache nach meint er dasselbe. Die historische Begrifflichkeit „Geist der Brüderlichkeit“ führt uns an den Ursprung heran: „Geist der Solidarität“ wurzelt letztlich im „Geist der Brüderlichkeit“. Aber wie steht es dann um Solidarität in einer geschwisterlosen Gesellschaft?

Dass Geschwisterbeziehungen in der Familie ein besonders wichtiges Lernfeld für solidarisches Verhalten darstellen – dieser Satz darf wohl auch in Gesellschaften Geltung beanspruchen, in denen sich Mehr-Kinder-Familien radikal rückläufig entwickelt haben. Staatliche Politik, die an solchen Lernprozessen interessiert ist, kann kinderreiche Familien zu fördern versuchen. Die Chancen, auf diesem Weg eine grundsätzliche Wende herbeizuführen, sind freilich gering. Man wird nach Alternativen suchen müssen. Es müssten Modelle entwickelt werden, wie an Solidarität orientierte Erziehung Kindern neben, außerhalb bzw. in Ergänzung zur Familie vermittelt werden kann. Sie werden sich am Vorbild der Familie zu orientieren haben. Die wichtigste Forderung an alle Erziehungsinstitutionen der Kindheitsphase erscheint Stabilität – Stabilität in der Zusammensetzung der Kindergruppen analog zu Geschwistergruppen, Stabilität aber auch bei den betreuenden Bezugspersonen. An diese sind besonders hohe Erwartungen zu stellen, wenn es um den Aufbau dauerhafter, familienähnlicher Strukturen geht. Heute werden solche Aufgaben vor allem von Frauen geleistet. Es stellt sich die Frage, ob nicht in frühen Erziehungsphasen auch Männer als „Väter“ stärker präsent sein sollten. Ein Erziehungssystem, das zu mehr Solidarität hinführt, müsste von Kinderkrippen und Horten aufwärts neu durchdacht werden. Der wichtigste Schlüssel ist wohl das Pflichtschulwesen. Nicht eine Intensivierung und Weiterentwicklung kognitiver Lerninhalte löst die hier angesprochenen Probleme. Was die zunehmend geschwisterlose Familie an Aufgaben offen lässt, kann nur durch Neugestaltung der Bildungsinstitutionen in ihrer sozialen Dimension bewältigt werden.


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