Vive la couleur!#
Frankreichs politische Farbcodes erhielten mit den Gelbwesten einen grellen Neuzugang.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 2. März 2019
Von
Ingeborg Waldinger
Die Nacht breitet ihren Mantel über eine verlassene Landstraße. Auf dem Pannenstreifen steht ein Wagen, das Rücklicht eingeschaltet, das Warndreieck aufgestellt. Davor hat sich ein Mann positioniert: markant, extravagant. Dunkle Brille, das weiße Haar nach hinten gefasst; er trägt ein weißes Hemd mit Stehkragen und schwarzer Fliege, ein schwarzes Jackett. Und über dem noblen Ensemble eine reflektierende gelbe Weste. Der Mann hat eine Botschaft: "Sie ist gelb, sie ist hässlich, sie passt zu nichts, aber sie kann Leben retten."
Als Frankreichs Regierung im Jahr 2008 die Mitführpflicht von Warnwesten einführte, lancierte sie eine großangelegte Plakatkampagne. Das Bild mit der eingangs geschilderten Szene ist ein Musterbeispiel französischer Kommunikationsstrategie. Mit Eleganz und feiner Ironie wurde die Maßnahme zur Erhöhung der Verkehrssicherheit als lässlicher, der Vernunft geschuldeter Stilbruch mediatisiert; als Botschafter hat man eine Stilikone engagiert, den am 19. Februar dieses Jahres verstorbenen Karl Lagerfeld.
Jeder Autofahrer hat diese Weste heute griffbereit. Ein profanes Utensil, dessen Warnfunktion nun eine politische Deutung erfuhr, und zwar von einem Gutteil jener Franzosen, die sich in ihren existenziellen Sorgen, ihrer Angst vor Armut von der Regierung Macron nicht wahrgenommen fühlen. Im Herbst des Vorjahres beschlossen sie, ihren Unmut öffentlich kundzutun. Seither ziehen sie allsamstäglich ihre gilets jaunes über und formieren sich zu Protestmärschen durch Paris und viele Städte der Provinz. Ein subtiler Fehdehandschuh an jene Macht, die das Kleidungsstück verordnet hat.
Gegen zu hohe Lebenshaltungskosten demonstrieren die "Gelbwesten", gegen zu hohe Steuern, für mehr Demokratie und mehr soziale Gerechtigkeit. Mitunter wirken ihre Forderungen etwas widersprüchlich, eine aber kehrt häufig wieder: Macron muss weg.
Der Präsident ist freilich noch da, wenngleich zunehmend unter Druck. Und reagierte mit ersten Hilfen für Geringverdiener und Pensionisten sowie mit der Einladung zum Grand débat, zur großen Debatte, bei der Bürger und Bürgerinnen ihre Anliegen, Sorgen, Vorschläge vortragen sollen. Die Gelbwesten sehen in dieser Geste ein Scheinmanöver und lehnen den angebotenen Dialog ab.
Auslöser der Bewegung waren Facebook-Initiativen. Ein Fernfahrer hatte zu Straßenblockaden gegen die geplante Treibstoffsteuererhöhung aufgerufen, ein südfranzösischer Techniker schlug Gleichgesinnten vor, zum Zeichen des Protests die gelbe Warnweste auf das Armaturenbrett ihres Autos zu legen.
Der französische Historiker Michel Pastoureau hat die Kulturgeschichte diverser Farben in lesenswerten Monografien erzählt. Derzeit in Arbeit - was Wunder - Gelb. In Interviews mit der Tageszeitung "Libération" und dem Kulturmagazin "Les Inrockuptibles" hat er den Farbcode der Gelbwesten analysiert: Seit man Farben in der Politik verwende, habe man das überwiegend negativ besetzte Gelb tunlichst vermieden, zumindest in Frankreich. Mithin war es für politische Belange verfügbar.
Pastoureau hätte allerdings davon abgeraten: Orange statt Gelb, das wäre sein Vorschlag. Orange rufe Assoziationen zu See-Rettungswesten und Bojen hervor, signalisiere also auch Bedrängnis oder Warnung - nur ohne negativen Beigeschmack. Allerdings war diese Farbe in Frankreich politisch bereits besetzt - durch die zentristisch-liberale Partei MODEM (Mouvement démocrate) von François Bayrou.
Signalisierte Gelb in der griechisch-römischen Antike noch Reichtum, Prosperität, Licht und Wärme, wurde es im abendländischen Mittelalter gleichsam aufgespalten. Das positive Gelb erstrahlte fortan golden, daneben bildete sich ein fahles, stichiges Gelb als Farbe der Lüge, des Verrats heraus. Jahrhundertelang stellten etwa Maler die Figur des Judas in gelber Kleidung dar; Rechtsbrecher wiederum - Verräter, Falschmünzer oder Majestätsbeleidiger - wurden durch gelbe Markierung ihrer Häuser stigmatisiert.
Der gelbe Ring#
Das 4. Laterankonzil (1215) verordnete dann Juden und Moslems das Tragen eines gut sichtbaren Kennzeichens. Oft war es ein gelber Ring - auch in Frankreich. Das Infame, so Pastoureau, verband sich haltbar mit der Farbe Gelb, die Nationalsozialisten brauchten für den Judenstern nur den Code des christlichen Antisemitismus zu reaktivieren. Auch die "Gelben Gewerkschaften" (eine von Unternehmerseite unterstützte Gegenbewegung zu den "roten" Gewerkschaften) trugen nicht zur Imageverbesserung der Farbe bei. Den Anfang machte 1899 eine Gruppe von Streikgegnern der Eisenwerke von Creusot. Der Widerstand erfasste viele Betriebe. Der Versuch, daraus eine politische Bewegung zu entwickeln, scheiterte; der Dachverband dieser Gegengewerkschaften, die Fédération nationale des Jaunes de France, wurde 1910 aufgelöst. Bis heute bezeichnet man Streikbrecher als "Gelbe". Kurzum, Gelb rangiert bei den Franzosen auf dem letzten Platz der Beliebtheitsskala, während Blau ihr unangefochtener Favorit ist.
Frankreichs Bürger, denen in Krisen eine gewisse Affinität zur Revolte nachgesagt wird, bringen für Sozialproteste gewöhnlich viel Verständnis auf. Unter dem Motto: heute trifft es dich, morgen vielleicht mich. Auch den Gelbwesten schlug anfangs viel Sympathie entgegen. Aktuell verzeichnet man die 16. Auflage ihrer Samstagsmärsche. Allerdings sind diese immer wieder von Ausschreitungen überschattet und bescheren Geschäftsleuten entlang der Marschrouten erhebliche Umsatzeinbußen. Die jüngsten antisemitischen Verbalangriffe einzelner Gelbwesten auf den Philosophen Alain Finkielkraut drohten die gesamte Bewegung in ein übles Licht zu rücken. All dies nährt das Abgrenzungsbedürfnis mancher Mitbürger. "Ich bin keine Gelbweste" verkünden sie - und bringen eine Kontrastfarbe ins Spiel: Rot.
Abermals fungierte Facebook als Mobilisierungsplattform. Laurent Soulié, Luftfahrtingenieur in Toulouse, rief zur Unterstützungskundgebung für den Präsidenten auf, nachdem die Gelbwesten Macrons Einladung zum Dialog zurückgewiesen hatten. Im provenzalischen Vaucluse wiederum wollte John Christophe Werner die Straßenblockaden der Gelbwesten nicht länger hinnehmen und animierte Gesinnungsgenossen zum Tragen eines foulard rouge (foulard bedeutet Schal wie auch Halstuch).
Der vestimentäre Protest-Code der Gallier war mithin um die "Rotschals" erweitert. Vor einem Monat bliesen sie dann zum (friedlichen) "republikanischen Marsch" durch Paris, um die Grundfreiheiten zu verteidigen, Recht und Ordnung einzufordern und zu skandieren: "Auch wir sind das Volk". Sie intonierten die Marseillaise und trugen T-Shirts mit der Aufschrift "J’aime ma République", ich liebe meine Republik. Freilich: auch die Gelbwesten haben sich nicht von ihrer Republik entliebt, sondern von ihrem Präsidenten.
Die Rotschals#
Zur Farbwahl der Rotschals erklärte Mitinitiator J.-Chr. Werner gegenüber dem TV-Sender France Info: "Ehrlich gesagt, gibt es hinter dem roten Tuch nicht wirklich eine Symbolik. Ich hatte mir einfach gesagt, dass das etwas ist, was viele Leute zu Hause haben."
Nun, das gilt zumindest für einen Teil der Citoyens, die Basken. Das dreieckige rote Halstuch gehört zu ihrer Tracht (weiße Hose, weißes Hemd, dazu jeweils in Rot Halstuch, Beret und Gürtelband). Farb-Pate war in diesem Fall San Fermin, der Patron von Pamplona, mit seinem (Märtyrer-)Blut. Das rote Halstuch wird bei Festen und Ferias im Baskenland getragen, und zwar dies- wie jenseits der Pyrenäen.
Rot ist ein klassisches Signal der Macht - und der Revolution. Es war die Farbe der phrygischen Mütze (bonnet phrygien) der Jakobiner. Rasch wurde sie zum Symbol der Freiheit sowie Teil der Uniform der Sansculotten (die keine culottes, also Kniebundhosen wie der Adel und Klerus trugen, sondern gestreifte Langhosen). Die Phrygiermütze prangte auf den offiziellen Schriftstücken und dem Papiergeld der Revolution, den sogenannten Assignaten. Oft schmückte noch eine rot-blaue Kokarde die Mütze.
Das Dorf Bonnet-Rouge#
"Bonnet" wurde sogar ein Vorname. Und kam das Wort Bonnet in Ortsnamen vor (ein gleichnamiger Erzbischof war Namenspatron Dutzender französischer Gemeinden), taufte man diese doktrinär um. So wurde aus dem Dorf Saint-Bonnet plötzlich "Bonnet-Rouge". Die Revolutionäre von 1848 reklamierten die Freiheitsmütze dann in die Trikolore hinein. Ein Intermezzo nur. In der III. Republik tauchte sie erneut auf - auf dem Haupt der Republiks- und Freiheits-Allegorie Marianne, deren Büste jedes Rathaus schmückt.
Auch der Sozialismus trägt gewöhnlich Rot. Nicht in Frankreich. Der Parti Socialiste bevorzugt heute Rosa. Gut, ein rotes Signal ist auch noch da, im Logo der Partei. Eine weiße Hand hält eine rote Rose, und weil das Motto "social-écologie" lautet, darf die Blume auch ihre grünen Blätter zeigen. Intensiv- bis dunkelrot sind dann die Kennfarben des radikaleren Teils der französischen Linken, etwa des Parti Communiste oder der trotzkistischen Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf).
Rote Mützen hatten übrigens, lange vor der Revolution, schon die bretonischen Bauern bei ihrem Widerstand gegen Colberts Steuersystem getragen. In Anspielung auf diese Episode protestierten im Jahr 2013 rotbemützte bretonische Landwirte gegen die geplante "écotaxe", eine Maut für LKWs ab 3,5 Tonnen. Erfolgreich, denn 2016 kam das endgültige Aus für die Abgabe.
Das Meer der Rotmützen von 2013 war von bretonischen Flaggen durchwirkt. Auch dies gehört zum französischen Politrepertoire: Begehren Regionen gegen Maßnahmen des Zentrums auf, die sie als Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit deuten, pochen sie nicht selten zugleich auf den Erhalt ihrer Identität - und holen ihre Regionalflaggen hervor. Dies gilt auch für die Südfranzosen, die sich in Krisenzeiten gern ihrer "okzitanischen" Geschichte besinnen und bei Protesten Fahnen mit dem Tolosaner Kreuz (gelb auf rotem Grund) schwingen.
Eine zentrale Rolle kommt der Farbe Rot auch in Frankreichs Nationalflagge - der Trikolore - zu. Erstmals zu sehen war die dreifarbige Fahne 1790. 1794 erklärte sie der Nationalkonvent zur offiziellen Nationalflagge der Ersten Republik: Blau und Rot, die Farben der Stadt Paris und zugleich Symbole des Volks, sollten das Weiß in der Mitte gleichsam in Schranken halten. Weiß war damals die Farbe des Königs, der ja noch auf dem Thron saß. Davor und später nochmals, während der Restauration und dem Second Empire, war der "Pavillon royal" (weiße Fahne mit goldenen Lilien) die faktische Nationalflagge Frankreichs.
Bis heute eigne diesem Nationalsymbol auch eine gleichsam liturgische und anthropologische Dimension, etwa im Bereich des Sports wie bei politischen Kundgebungen, erklärt Michel Pastoureau in seinem Werk "Les emblèmes de la France" (1998). Andererseits seien nationale Symbole in Demokratien - ganz im Gegensatz zu totalitären Staaten - lange ein Stiefkind der Wissenschaft gewesen. Die Beschäftigung mit ihnen galt als Ausweis einer nationalistischen Geisteshaltung. Erst die Schule der Nouvelle Histoire habe den Bann allmählich gebrochen. Dennoch ortet Pastoureau in Frankreich eine breite Unwissenheit über die wahre Bedeutung nationaler Embleme und Symbole - was deren beliebige Instrumentalisierung begünstige. Mittlerweile forciert die Republik allerdings wieder den entsprechenden "Aufklärungsunterricht" an Grundschulen.
Blau schließlich, die Lieblingsfarbe der Franzosen, war die dynastische Farbe der Kapetinger, also wie Weiß eine königliche Farbe, wovon etwa die Heraldik (goldene Lilien auf blauem Grund) und der blaue Krönungsmantel zeugen. Im 19. Jahrhundert wandelte sich die politische Symbolik. Blau wurde zur Farbe der Repu-blikaner, der Liberalen, der Konservativen. Auch der rechtsextreme Front National wählte diesen Farbcode; das weiß-rote Flammenlogo hat Marine Le Pen eliminiert. Republikanische Image-Politur. Ihrer eigenen Bewegung, dem "Rassemblement Bleu Marine", verpasste sie eine langstielige Rose als Emblem - in Marineblau.
Die Franzosen tragen natürlich auch Grün. Es ist, wenig überraschend, die Farbe der Öko-Partei Les Verts. In der Chronik des Landes finden sich aber auch sogenannte Grünhemden, die "Chemises vertes". Sie waren mehrheitlich reaktionäre Bauernkomitees der Zwischenkriegszeit, die gegen die Marginalisierung des ländlichen Raums protestierten. Die "Gilets verts", also die Grünwesten, sind hingegen ein Phänomen unserer Tage. Wie die Rotschals, üben sie Kritik an den Gelbwesten, weil diese - welch ignorante Benzinbrüder! - die Spritsteuererhöhung zu Fall brachten.
Und Violett, diese ausgleichende Mischung aus Rot und Blau? Traditionell eine Farbe der Frauenbewegung, setzten im November 2018 Tausende Französinnen in Paris ein Statement: mit ihrer "Marche violette" gegen sexuelle Gewalt und Belästigung. Auf Violett verfielen auch Jean-Louis Borloo für seine Mitte-rechts-Partei UDI (Union des démocrates et indépendants) - oder Nicolas Dupont-Aignan, Gründer der gaullistisch-nationalkonservativen Partei Debout la République. Dupont-Aignan experimentierte für sein Logo lange mit Violett herum. Mittlerweile heißt die Partei Debout la France und hat ein wesentliches Logo-Element verloren: die Trikolore schwingende Freiheitsfigur aus Eugène Delacroix‘ berühmtem Gemälde. Was blieb? Nur der Schriftzug "Debout la France!" - in Blau, rot unterstrichen, auf weißem Grund.
Erhebt sich noch die nicht ganz unspannende Frage: Welche Farbe trägt eigentlich die "Bewegung" des Ex-Sozialisten Emmanuel Macron, "La République en marche" (REM)? Weder links noch rechts sei diese, wurde der wahlkämpfende Macron einst nicht müde zu betonen. Das Farbspektrum ließ wenig Spielraum, das Logo fiel schlicht und "unbunt" aus: schwarzer Parteiname auf weißem Grund.
Anekdote am Rande: Schon die Ikonografen der Medien hatten ihre liebe Farb-Not, als Macron 2017 den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl gewann. Wie sollte man die Resultate der REM in den Hochrechnungs-Diagrammen einfärben? Am brauchbarsten schien vielen das neutrale Grau, auch der "Libération", doch schon bald regten sich Bedenken. In ihrer Ausgabe vom 10. 5. 2017 legte die Tageszeitung das Dilemma dar: Grau sei letztlich keine gute Wahl gewesen, hätte es doch einen gewissen Goût des "Erloschenen", und schlecht zu sehen sei es obendrein. Also griff man - Sie haben es erraten? - zu Gelb. Eben weil es in Frankreich politisch unbesetzt war und für etwas Neues stehen konnte. Es lebe das gallische Farbenspiel!
Ingeborg Waldinger, geboren 1956, Romanistin, ist Redakteurin im "extra" der Wiener Zeitung und literarische Übersetzerin.