Angst #
von Hermann Maurer
Im einem anderen Beitrag "Mut und Feigheit" plädiere ich für mehr "Zivilcourage", formulierte ich es als wichtig, auch bei Gefahr für gewisse Prinzipien einzutreten, und schlug vor, ein solches Eintreten, eine gewisse Art von Mut durch Erziehung und Aufklärung (wieder?) stärker in allen Menschen zu verankern. Hier nun zwei aus ganz verschiedenen Richtungen kommende Gegenpositionen. Sie stammen aus zwei Büchern, die ich beide für äußerst lesenswert halte.
Im Buch "Nichts und Amen" schildert die (leider schon verstorbene) Journalistin und Schriftstellerin Oriana Fallaci (Kiepenhauer + Witsch Verlag) ihren Einsatz in Vietnam. Sie übernahm ursprünglich die Aufgabe der Berichterstattung in Saigon, weil sie als überzeugte Pazifistin den Krieg (und die Verantwortung der Amerikaner für diesen) anprangern wollte. Bei ihren oft todesmutigen Missionen erlebt sie Furchtbares und tiefste Angst.
Gleichzeitig spürt und beschreibt sie ein Phänomen, das wohl die meisten, die je im Krieg waren, erlebt haben, aber kaum jemand den Mut hat oder gehabt hat zuzugeben: jeder Krieg ist verabscheuenswürdig und muss mit aller Kraft verhindert werden. Dennoch: der Krieg mit seiner Angst, mit den täglichen Adrenalinstößen, mit dem grässlichen Sterben vieler Menschen, macht plötzlich das Leben wertvoll, bewirkt, dass Kleinigkeiten schön werden, reißt Menschen aus der Gleichgültigkeit des Daseins, aus einem "Dahinvegetieren", in dem Menschen sich eher wie "Abziehbilder" statt wie mit Leben pulsierende Individuen benehmen, und führt sie zu einem bewussten Erleben. So traurig es ist: erst das Entsetzen macht das Normale schön, erst das Kranksein das Gesundsein wichtig, erst das Hungern lässt trockenes Brot köstlich schmecken.
Als Fallaci nach New York abberufen wird, hält sie die Oberflächlichkeit und das dumme Dahinplätschern des Lebens in der satten Oberschicht der USA nicht aus, sie kehrt zurück zur Gefahr, zum Schmutz, zur Angst in Saigon, sie muss wieder dort sein, wo sich Menschen als Feiglinge oder Helden erweisen und Freundschaften als Gerede oder als mehr.
Fallaci verherrlicht nicht den Krieg (und natürlich will ich das genau sowenig), aber sie spricht das aus, was viele im Krieg erlebt haben: so schlimm er war, er hat in einer eigentümlichen Weise das Leben lebenswert, wichtig und bewusst gemacht. Nur so ist es zu verstehen, warum Menschen, die z.B. die Schrecken des letzten Weltkrieges erlebt haben, immer wieder davon erzählen; und zwar nicht nur über das Trauma Krieg (das war es immer auch), sondern auch vom Krieg als Schlüsselerlebnis ihres Daseins.
Natürlich "rechtfertigen" solche Auswirkungen Kriege nicht. Fallaci, die bewundernd über die übermenschlichen Leistungen und den gewaltigen Mut vieler ihrer Freunde schreibt, einen Mut, der oft weit über die anfangs angesprochene "Zivilcourage" hinausgeht, analysiert ihre Erlebnisse und kommt schlussendlich zu einem Ergebnis, das ihrer pazifistischen Grundeinstellung entspricht: so bewundernswert Zivilcourage ist, so gefährlich ist sie andererseits.
Wenn niemand auch nur eine Spur davon hätte, vielleicht wäre dann jeder Kampf, jeder Krieg unmöglich: jedes Quentchen Mut, jede Mutprobe, jeder Versuch zu lernen, wie man sich wehrt (so in etwa argumentiert sie), birgt den Kern von gewalttätigen Auseinandersetzungen in sich.
Fallaci endet also, obwohl sie "Gefahr als Salz des Lebens" erkannt hat und bewundernd über viele gerade jener Heldentaten berichtet, für die man keine Orden erhält, mit einer sehr differenzierten Meinung zum Thema Mut und Zivilcourage.
Eine noch extremere Sicht etwa der Art: "Mut, um eine persönliche Bedrohung durchzustehen und dabei anderen, direkt Beteiligten zu helfen: ja; aber Mut im Sinne der Opferung für ein 'größeres Ziel': keinesfalls" kommt aus dem Buch "Entführung: Hundert Stunden zwischen Angst und Hoffnung" von Hannelore Piegler (Molden Verlag) zum Ausdruck. Piegler war die Chefstewardess auf jenem Lufthansaflug 1977, der auf der Route von Mallorca nach Frankfurt von vier Palästinensern auf eine Odyssee in den Nahen Osten und nach Afrika entführt wurde, um die Freilassung von neun deutschen Terroristen zu erpressen.
Die entsetzlichen Tage, in denen einige Passagiere geschlagen werden, der Flugkapitän ermordet wird und die Sprengung des Flugzeugs ständig bevorsteht, die böse Zeit, in der Piegler mit ihren Kollegen und Kolleginnen trotz schlimmster Bedingungen versucht, die Fluggäste einigermaßen zu betreuen, bis alle mehr oder minder vor dem physischen und psychischen Zusammenbruch stehen, wird packend geschildert.
Und immer wieder kommt das Argument Piebers, "die deutsche Regierung kann doch nicht das Leben von 100 unschuldigen Menschen im Flugzeug opfern, nur damit die neun Terroristen nicht freigelassen werden müssen". Dass Piegler in der Zeit der unmittelbaren Bedrohung so denkt, ja denken muss, dass sie an den "Austausch" der Terroristen in Deutschland gegen die Geiseln in der "Landshut" (so hieß das Flugzeug) glaubt, um irgendeine Hoffnung auf ein Überleben haben zu können, ist verständlich.
Piegler geht aber weiter: dass eine deutsche Sondereinheit schließlich die Landshut in Mogadischu stürmt und alle Geiseln (mit einer einzigen Verletzung) befreit (drei von den Terroristen werden dabei getötet), hält sie auch Jahre nach der Geiselnahme für einen Fehler (da die Befreiung auch sehr viel blutiger hätte enden können); es ist unvertretbar, meint sie, das Leben von vielen Menschen wegen neun Terroristen aufs Spiel zu setzen: wenn es nach ihr gehe, müsste man in jedem solchen Fall die Terroristen frei lassen, müsste man auf die Forderungen der Geiselnehmer eingehen.
Ich persönlich glaube nicht an die "Mut ist schön, aber schlecht" Schlussfolgerung von Fallaci und noch weniger an jene von Piegler. Es geht bei Flugzeugentführungen und ähnlichen Erpressungen nicht um die einmalige Erfüllung von Forderungen (wenn es nur das wäre, sollte man nachgeben); es geht auch nicht um irgendein "rechtsstaatliches Prinzip" (für welches der Tod von Menschen kaum zu rechtfertigen wäre); es geht darum zu belegen, dass Erpressungen nie zu etwas führen, denn nur so sind zukünftige Erpressungen vermeidbar: der sicherste Weg zu verhindern, dass es keine Flugzeugentführungen gibt, ist es klarzustellen, dass bei keiner Entführung, gleichgültig worum es geht, nachgegeben wird.
Dass mir diese Aussage vermutlich nicht mehr angenehm ist, sollte ich je in einem entführten Flugzeug sitzen, ist sicher: ich hoffe, dass ich aber auch dann noch daran glauben werde.
Dieser Aufsatz ist aus dem Buch "Der Anfang" aus der XPERTEN-Reihe.