Der Berg von hinten #
(Erstveröffentlichung am 11. 11. 1992)
Der Traunstein - markanter und schöner Berg am Ostufer des Traunsees - schaut von Gmunden ganz anders aus als von Ebensee (von beiden Punkten recht beeindruckend), während er von Osten her sehr viel weniger ins Auge sticht. Und das gilt für fast jeden Berg, jedes Gebirge, ja das gilt überhaupt für die meisten kleinen oder großen Gegenstände: Schließlich können Vorder- und Rückseite ein und derselben Münze so verschieden sein, dass man sie ohne Erfahrung gar nicht als zwei Seiten der gleichen Münze erkennen würde!
Warum schreibe ich über diesen Gemeinplatz so ausführlich? Weil viele Menschen nicht verstanden haben, dass dieses "verschiedene Ausschauen" nicht nur für Gegenstände (z.B. für Gebirge), sondern natürlich auch für Ideen (für Gedankengebirge) gilt.
Wie oft habe ich die fast vorwurfsvolle Feststellung gehört, "aber du hast dich doch zu diesem Thema damals ganz anders geäußert!" Ja, warum auch nicht? Ich bin nicht wankelmütig oder dergleichen. Ich habe nicht eine Ansicht zu einer bestimmten Idee, die Idee hat verschiedenes Aussehen (= sie hat verschiedene Ansichten), je nachdem von wo aus man sie betrachtet.
"Du hast deinen Standpunkt geändert!", höre ich manchmal. Ja, natürlich, und ich bin stolz darauf: den Standpunkt nicht zu ändern, das ist so, als würde man den Traunstein immer nur von Gmunden aus ansehen; und ein Streit über das Aussehen einer Münze macht wenig Sinn, wenn einer die Vorder-, der andere die Hinterseite ansieht!
Es sollte uns allen klar sein, dass man sehr wohl detailliert über eine Idee (ein Gedankengebirge, um bei der Analogie zu bleiben) sinnvoll reden kann (so wie über den Traunstein), aber ein vernünftiges Verständnis der Idee (Vorstellung vom Traunstein insgesamt) können wird nur erhalten, wenn wir bewusst diese Idee aus verschiedenen Blickpunkten betrachten (also wenn wir bewusst mehrmals den Standpunkt wechseln!). Und eine solche Betrachtungsweise ist nicht wankelmütig, wetterwenderisch, charakterlos oder etwas Ähnliches, sie ist die einzig sinnvolle und Ziel führende, wie wir eigentlich seit Sokrates wissen sollten: Er lehrte, immer alles von allen Seiten anzusehen und Argumente und Gegenargumente aller Arten zur Klärung des wirklichen Sachverhaltes einzusetzen, nicht einfach eine bestimmte Ansicht (die sich aus der Sicht eines einzigen Standpunktes ergibt) als "objektiv wahr" anzusehen.
Dieser Aufsatz ist aus dem Buch "Der Anfang" aus der XPERTEN-Reihe.
... und grade habe ich in dem Spitzenbuch Ralph Ruthe: Das große Cartoonbuch, Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2012 (Buch unbedingt kaufen! Es ist wirklich kaum übertreffbar, siehe auch http://www.ruthe.de oder http://www.facebook.com/ruthe.de ) den folgenden Cartoon gefunden, der das selbe sagt wie der Aufsatz: ein Ding kann je nach Standpunkt sehr verschieden sein!