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Lebewesen Menschheit#

Hermann Maurer

Vorbemerkung: Dieser Aufsatz wurde schon 1989 Jahren erstmals geschrieben (ich habe nur einige Worte und Verweise geändert). Ist dieser Beitrag durch die zunehmende Globalisierung (deren Radikalität und Schnelligkeit ich inzwischen auch im XPERTEN Band "Das Paranet - Zusammenbruch des Internets" eher bedaure) nicht noch überzeugender geworden?

Der Urmensch lebte in Kleingruppen, variierend in Größe von einigen zu einigen Dutzend Familien. Diese Gruppen, nennen wir sie Clans, waren autark: Ihr Überleben hing nur von den Clans selbst ab, andere Clans waren dazu nicht notwendig, ja wurden eher als Konkurrenten bei der Jagd, beim Fischen, beim Sammeln, bei der Auswahl der besten Wohnstellen, usw. gesehen. Der Mensch war also ursprünglich mehr oder minder ein Einzellebewesen.

Im Laufe der Entwicklung der menschlichen Kulturen wurde die Abhängigkeit der Menschen von einander immer größer. Zuerst über Handel, dann über immer stärkere Arbeitsteilung, schließlich über Großvorhaben, die nur durch die koordinierte Anstrengung vieler tausender Menschen möglich waren, wurden Menschen immer mehr aufeinander angewiesen, die Clans immer größer, bis Staaten oder große Reiche entstanden.

Und selbst diese waren oft schon nicht mehr voll autark, sondern mit anderen Staatsgebilden durch Handel verbunden.

Schon im Ägypten der Ptolemäer war der Einzelmensch - ohne sich dessen vielleicht bewusst zu sein - nur mehr ein kleines Rädchen im Gesamtgetriebe des Staates Ägypten, nur noch eine Zelle im Lebewesen Ägypten. Und wie bei jedem tierischen Lebewesen war keine individuelle Zelle für das Gesamtüberleben des Lebewesens Ägypten notwendig, der Ausfall großer Zellgruppen (z.B. der Bauern, der Handwerker, der Priester, der Ärzte, der Verwalter, der Soldaten) würde aber sehr wohl die Existenz des Gesamtlebewesens Ägyptens gefährdet haben.

Die Entstehung einer solchen neuen Qualität "Lebewesen Ägypten" brachte nicht nur eine größere Verzahnung der einzelnen Menschen miteinander mit sich, sondern dieses Lebewesen Ägypten war auch zu ganz neuen Leistungen fähig, die kein Einzelmensch je hätte durchführen können. Nicht nur die Pyramiden gehören dazu, sondern vielleicht noch wichtiger z.B. ausgeklügelte Bewässerungs- und Straßensysteme. Während es also schon in geschichtlichen Zeiten sehr große Menschengruppen gab, die man mit gewissem Recht als eigene Organismen mit neuen Gesetzmäßigkeiten, Gefahren und Möglichkeiten ansehen kann, gab es doch noch viele verschiedene solche Organismen, die sehr voneinander unabhängig waren.

Beispielsweise hatten um 1000 n. Ch. die Inkas, Mayas, Indianer, Eskimos, Europäer, Chinesen, Japaner, Inder, Maoris und Aborigines (um nur einige zu erwähnen) kaum Kontakt miteinander, ja wussten oft nicht einmal voneinander.

Es ist dem 20. und 21. Jahrhundert vorbehalten, dass durch weltweiten Handel und immer weiter fortschreitende Technologisierung der Welt die Menschen auf der ganzen Welt immer stärker zu einem einzigen Lebewesen Menschheit zusammenwachsen.

Die Blutgefäße dieses Lebewesens sind die Transportwege für Menschen, Rohstoffe, Produkte und Energie. Gewaltige Stromverbundsysteme Europas, transkontinentale Erdgas- und Ölpipelines und das direkte Netz von Straßen, Bahnen und Flugverbindungen spielen die Rolle von Blut- und Lymphsystem. Die Nerven dieses Lebewesens sind die Kommunikationskanäle: Telefon, Radio, Fernsehen, Computernetze.

Die Analogie ist beliebig weiterspielbar: z.B. entsprechen lokale Entzündungen in einem tierischen Lebewesen den lokalen Kriegen (die durch z.B. Vermittlungsversuche oder Friedenstruppen hoffentlich so eindämmbar sind, wie Entzündungen in einem tierischen Lebewesen durch dessen Abwehrreaktion). Wichtig zu begreifen ist die Tragweite dieser Entwicklung, die sich voll in Gang befindet, die aber noch nicht abgeschlossen ist.

Ein einziges großes Lebewesen Menschheit ist im Entstehen, beginnt mit seinen Muskeln zu spielen, spuckt schon ein paar Mal versuchsweise aus der Pfütze Erde, in der es sitzt, in die nächsten Pfützen wie Mond, Venus und Mars; seine Leistungen gehen bereits millionenfach über das hinaus, was jeder kleine Clan, egal, über wie viel technisch-biologisch-naturwissenschaftliches Wissen er verfügen würde, schaffen könnte.

Jedes Auto, jedes Flugzeug, der Rundfunk, das Fernsehen, die Stromversorgung, die Straßennetze, die Filmindustrie, . . . all das und viel mehr sind Leistungen des entstehenden Lebewesens Menschheit, undurchführbar (ja sinnlos) für jede kleine Zellgruppe (= kleine Anzahl von Menschen). Das Lebewesen Menschheit ist noch bei weitem nicht ausgereift; viele Zellgruppen wie etwa heute einige Stämme auf Neuguinea oder die Amazonasindianer sind noch wenig eingebunden; andere, riesige Zellgruppen (etwas Teile Afrikas) erst ansatzweise.

Der Prozess des Zusammenwachsens ist aber nicht mehr aufzuhalten; das Lebewesen Menschheit nimmt immer mehr Gestalt an; es wird in der Lage sein, Taten zu setzen, die heute genauso undenkbar sind wie vor hundert Jahren die Flugzeug-, Raumfahrt-, oder Computerindustrie. Die Entstehung des Lebewesens Menschheit kann uns mit Stolz erfüllen: sie bedeutet nicht, dass unsere Freiheiten dadurch eingeengt werden, sie bedeutet nur, dass unser Leben in durchaus sinnvoller Weise stark verzahnt ist mit dem, was andere Menschen tun.

Das Lebewesen Menschheit wird durch diese Verzahnung sehr viel mächtiger als die Summe seiner Einzelzellen (= Menschen), allerdings auch mehr verwundbar.

Der Tod des Lebewesens Menschheit und aller seiner Einzelteile durch Aktionen, die das Lebewesen Menschheit selbst bewusst oder unabsichtlich auslöst, ist leider denkbar: Atomkriege, chemische oder biologische weltweite Katastrophen, oder ein totaler Umweltkollaps sind Beispiele dafür.

So gering die Wahrscheinlichkeit ist, dass sich die Menschheit in einem gegebenen Jahr ausrottet, über viele Dutzende, Hunderte oder Tausende Jahre hinweg wird die Wahrscheinlichkeit erschreckend groß: ein "immer währendes" Überleben der Menschheit auf dieser Erde ist sehr unwahrscheinlich.

Die logische Konsequenz aus dieser Tatsache behandelt mein Beitrag über Raumfahrt, aber hier noch eine wichtige Analogie zur wachsenden Verwundbarkeit des Lebewesens Menschheit erläutern: Solange die Menschen mehr oder minder Einzellebewesen waren, konnten von ihnen beliebig viele sterben, ohne dass dies die anderen stark beeinflusste; ferner hatten die damals lebenden Menschen gar nicht die Möglichkeit, alle anderen lebenden Menschen zu vernichten (die Transportmittel und Waffensysteme sind erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mächtig genug dafür geworden).

Diese Anfangssituation entspricht in etwa der Situation von z.B. vielen primitiven Kleinlebewesen: keines von diesen hängt viel von den anderen ab, oder kann große Mengen anderer beeinflussen. Die Situation der Staaten in geschichtlicher Zeit entspricht schon eher einer Sammlung von einigen hundert mäßig strukturierten Tieren, in einer Analogie vielleicht vergleichbar mit Regenwürmern: die Staaten selbst (die einzelnen Würmer) waren schon recht verwundbar, aber selbst eine Teilung in mehrere Stücke konnten sie überleben; die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Staaten (Würmern) waren erst mäßig groß.

Dem Entstehen des Lebewesens Menschheit aus Einzellebewesen über die Zwischenstufe von staatlichen Gebilden mit gewissen neuen Möglichkeiten und mäßig starken Interaktionen entspricht in dieser Analogie der Übergang von sehr vielen primitiven Lebewesen über eine Zwischenstufe von einigen hundert mäßig strukturierten Tieren (den obigen Würmern), zu einem einzigen neuen stärker strukturierten Tier, in unserer Analogie z.B. zu einem Frosch: Dieser kann sehr viel mehr als die primitiven Kleinlebewesen, mehr als einige Hunderte verteilt lebende Regenwürmer, aber - als einziges Exemplar seiner Art (es entsteht ja nur ein Lebewesen Menschheit) wäre ein solcher einzelner Frosch auch sehr viel mehr gefährdet: ein falscher Sprung und es kann sein letzter sein!

Für das Lebewesen Menschheit bedeutet das aber nicht nur, dass große Vorsicht beim Einsatz neuen Möglichkeiten am Platz ist, sondern noch mehr, dass wir dafür sorgen, dass es viele Exemplare der Menschheit geben wird und das ist nur auf einem Weg zu erreichen: durch die Kolonisation des Weltalls.

Dieser Aufsatz ist aus dem Buch "Der Anfang" aus der XPERTEN-Reihe.