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Ist Raumfahrt nützlich?#

Hermann Maurer

Auf manche Menschen übt die Idee der Raumfahrt eine große Faszination aus; andere lehnen sie als eine riesige Geldverschwendung ganz entschieden ab: Mit dem Geld, das man in die (häufig noch dazu militärische Raumfahrt) investiert, könnte man viel Gutes auf der Erde tun, z.B. Hungersnöte in der dritten Welt bekämpfen, Menschen in den Slums von Südamerika helfen, die medizinische Forschung vorantreiben, usw.

Kurzum, so wird argumentiert, wir haben so viele Probleme auf der Erde, warum dann Milliardenbeträge für eine mehr oder minder sinnlose Raumforschung ausgeben? Bei diesen Argumenten wird übersehen, dass wir sehr große Beträge genauso "ergebnislos" auch in andere Dinge investieren: Von militärischen Budgets angefangen, bis hin zu Ausgaben für esoterische moderne Kunst (die vielleicht auch nicht mehr Menschen begeistert als die Raumfahrt?), für alle möglichen und unmöglichen sportlichen Wettkämpfe (die trotzdem viele nicht missen wollen), für fünftklassige Unterhaltungssendungen im Fernsehen, für Forschung in katholischer Theologie oder für die Klassifizierung von Terrakotta Fragmenten aus der Römerzeit.

Um nicht missverstanden zu werden. Ich bin nicht gegen die oben erwähnten Aktivitäten.

Aber jeder, der mit dem scheinheiligen "helfen wir anderen Menschen" - Argument gegen die Raumfahrt argumentiert, darf dies meiner Ansicht moralisch nur, wenn er genauso heftig gegen Hunderte andere Dinge argumentiert. Wie kann jemand z.B. gegen Raumfahrt sprechen, der gleichzeitig Formel-I- Rennen oder Studien mittelalterlicher Geschichte unterstützt? Von diesen Aktivitäten helfen die letzten zwei der Menschheit sicher weniger, als Fortschritte in der Raumfahrt.

Bis hierher habe ich die Raumfahrt nur verteidigt, nun will ich zum Angriff übergehen.

Raumfahrtforschung ist nicht nur irgendeine Aktivität wie viele andere, sondern verdient einen sehr viel höheren Stellenwert. Sie kann, so behaupte ich, entscheidend für das Überleben der Menschheit sein. Bevor ich mit den wirklich "schweren Geschützen" auffahre, zunächst noch einige "philosophische" Anmerkungen.

Die Erforschung des Weltalls und Expeditionen dorthin entsprechen einem Urtrieb der Menschen, den wir bei der Polarforschung, der Besteigung der höchsten Berge der Erde, der Erkundung der Tiefsee, usw. immer wieder erleben bzw. erlebt haben: wenn wir diesem faustischen Drang, die Natur zu verstehen, schöpferisch tätig zu sein, alle Winkel dieses Universums kennen zu lernen, alles zu erforschen "was Mensch und die Welt zusammenhält" . . . wenn wir diesem faustischen Drang einmal alle nicht mehr besitzen sollten, dann sind wir keine richtigen Menschen mehr, sondern nur noch langweilig vegetierende Kreaturen; dann haben Archimedes und Aristoteles, Goethe und Shakespeare, Gutenberg und Einstein, Mozart und Monet, Marco Polo und Amundsen, Kant und Gauß, Gödel und Mendelson, usw., umsonst gelebt.

Das Weltall ist da, also "muss es" erforscht werden; die Sterne sind da, also "müssen" wir sie besuchen ... in Abwandlung des Ausspruchs "Warum ich auf die Berge steige? Weil sie da sind."

Die Erforschung des Weltalls ist, mit allem was dazugehört, vom Projekt SETI (Search for Extra Terrestial Intelligence) über das Weltraumteleskop Hubble eben bis hin zur Raumfahrt, auch zur bemannten Raumfahrt, aber nicht nur eine der ganz großen der Menschheit verbleibende Herausforderung uns das wohl größte der Menschheit verbleibende Abenteuer.

Gleichzeitig ergeben sich als Abfallprodukte neue Werkstoffe und Produktionsverfahren, neue medizinische Erkenntnisse, u.v.m. Schließlich wären viele der heute schon wieder als selbstverständlich angesehenen Verfahren wie weltweite Kommunikation, Navigation, Wetterprognosen, Rohstofferkundung aus dem Weltall ohne Satelliten, d.h. ohne Raumfahrt, unmöglich.

Insgesamt gesehen aber wohl am Wichtigsten ist die Tatsache, dass auf Dauer nur der Weltraum die notwendigen Rohstoffe für die Menschheit bieten wird, und dass die systematische Kolonisation des Weltraums durch die Menschen zwei ganz andere Probleme lösen wird: einerseits das Problem der Überbevölkerung der Erde, und andererseits das Problem des langfristigen Überlebens der Menschheit, wie ich in einem anderen Beitrag ("Das Lebewesen Menschheit") argumentiere. Denn das vorhersehbare "Lebewesen Menschheit" kann nicht unbegrenzt lange bestehen, es ist als Einzelexemplar zu verletzlich: wenn auch die Wahrscheinlichkeit, dass es sich selbst vernichtet oder vernichtet wird, pro Jahr sehr klein ist, über Jahrzehntausende hinweg ist diese Wahrscheinlichkeit viel zu hoch.

Ein relativ sicherer Fortbestand des "Lebewesens Menschheit" ist nur dann möglich, wenn es nicht EIN solches Lebewesen gibt, sondern viele, d.h. wenn viele Planeten, Monde, ja Sonnensysteme von Menschen besiedelt werden!

Mehr zu beiden obigen Argumenten in Wir haben zu wenig Phantasie.

Die Kolonisation anderer Himmelskörper in größerem Stil - zunächst wohl des Mondes, des Marses, der Monde des Jupiters, größerer Trümmer im Asteroidengürtel - wird freilich erst einsetzen, wenn AFACS (autonomous factory systems), d.h. autonome Fabrikationssysteme, verfügbar sind, also sobald alle wichtigen Produktionsprozesse praktisch ohne menschliche Arbeitskraft durchgeführt werden können.

Dieser Zustand ist aber absehbar, wie ich immer wieder argumentiere. Dann können andere Himmelskörper nicht nur weit gehend ohne menschliche Arbeitskraft für Millionen von Menschen bewohnbar gemacht werden, sondern kann auch eine Flotte von Raumfahrzeugen vollautomatisch hergestellt werden, die alle notwendigen Verkehrsaufgaben (inklusive des Transportes von "Auswanderern") übernimmt, jedenfalls innerhalb des Sonnensystems.

So utopisch das klingen mag für alle jene, die Zeitschriften wie Omni, Analog, Science Fact and Science Fiction, etc. nicht regelmäßig verfolgen, so ist nicht einmal der Zeithorizont für die Kolonisation des Sonnensystems so übermäßig lang. Die ersten Mond- und Marskolonien werden wohl dieses Jahrhundert in Betrieb gehen, zu welchem Zeitpunkt alle prinzipiellen Probleme bekannt und gelöst sein werden.

Fabrikationssysteme, die immer mehr an das Ideal der erwähnten AFACS (der voll automatisierten Fabriken) herankommen könnten, werden zur selben Zeit verfügbar werden, sofern den Schlüsseltechnologien Informatik/Robotik/Prozesssteuerung weiterhin eine hohe Priorität eingeräumt bleibt. Dann aber steht einer geradezu explosiven Entwicklung der Kolonisation des Sonnensystems nichts mehr im Wege.

Die bemannte Raumfahrt wird an den Grenzen des Sonnensystems nicht halt machen.

Selbst wenn man nicht relativistische Geschwindigkeiten in absehbarer Zukunft wird erreichen können (was zu befürchten ist), und selbst wenn es nicht gelingt, den Metabolismus von Menschen so zu verlangsamen ("Menschen einzufrieren"), dass sie Dutzende oder Hunderte Jahre ohne zu altern überstehen können wird dennoch die Kolonisation der "näheren" Sonnensysteme (im Umkreis von 100 Lichtjahren gibt es ca. 10 000 solche!) durchgeführt werden.

Zum Einsatz kämen dabei dann "Generationenraumer" - Raumschiffe, die einer völlig autarken Miniwelt ähnlich sind, in der z.B. 50.000 Menschen gleichzeitig auf die Reise gehen, dabei weit gehend "normal" leben und sterben, bis eines Tages (nach 20 oder 200 Jahren Flug) ein bewohnbarer Planet in einem anderen Sonnensystem gefunden wird. Solche Generationenraumer sind "im Prinzip" schon heute konstruierbar.

Realistisch wird ihr Bau dann erst in z.B. Mond- oder Marsumlaufbahnen, wo beliebig viele solcher Generationenraumer von AFACS gebaut werden. Auswanderer besiedeln diese Raumer und begeben sich auf ihre große Reise. Einigen wird das Leben auf den Generationenraumern so gefallen, dass sie diese nie mehr verlassen werden: die Zigeuner des 25. oder 26. Jahrhunderts?

Ohne ins Detail zu gehen, wofür ein eigener Beitrag notwendig wäre, stelle man sich einen solchen Generationenraumer vor als z.B. einen Würfel mit 1 km Seitenlänge. Indem man "Plattformen" in 20 in Abstand einzieht, erhält man 50 Ebenen, jede mit einem Quadratkilometer Fläche. 10 davon enthalten je ca. 1000 Häuschen mit durchschnittlich je 1000 m2 Grund mit Wiesen, Bäumen, usw.; pro Häuschen leben im Durchschnitt 5 Menschen.

Die anderen 40 Ebenen dienen für (vollautomatische) Landwirtschaft, Fabriken, Rückgewinnungsanlagen, Freizeitanlagen inklusive künstlicher Seen, Höhlen, Wälder: den ca. 50.000 Menschen auf so einem Generationenraumer stehen alle Bücher, Bilder, Filme, Musikstücke, die je entstanden sind, zur Verfügung, und auch sonst fehlt ihnen für ein schönes und erfülltes und recht "normales" Leben wenig.

Die Generationenraumer werden langsam aus dem Sonnensystem bugsiert und dann allmählich (z.B. durch die Teller-Methode) auf halbe Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Freilich, eine Wiederkehr zur Erde gibt es für die Passagiere eines solchen Generationenraumers kaum, da selbst die Rundreise zum nächsten Sonnensystem (Proxima Centauri) bei halber Lichtgeschwindigkeit etwa 20 Jahre dauern würde. Aber: auch die hunderttausenden Auswanderer, die z. B. Irland während der Kartoffelkrise nach Amerika verließen, haben ihre Heimat nicht wieder gesehen! Nur damals waren die Bedingungen für Auswanderer sehr viel härter und unerfreulicher, als die Auswanderer auf Generationenraumern es je haben werden.

Nochmals muss betont werden: Natürlich ist obiges Zukunftsmusik, aber es ist keine unbegründete Fantasterei, sondern ein realistisches Szenario. Ein Szenario, das nur dann unglaublich klingt, wenn man klein kariert immer nur einige Jahre nach vorne und nach hinten blickt und damit echten Visionen aus dein Auge verliert.

Bis zu einem gewissen Grad befinden sich die Menschen heute in einer ähnlichen Situation wie die Europäer ca. 1520; und denken und benehmen sich ganz ähnlich. Damals war Amerika entdeckt, die Möglichkeit der Atlantiküberquerung war mehrmals demonstriert worden. Weit blickende Politiker hatten damals zwar die Vision von permanenten Außenposten in Amerika für Handelszwecke.

An eine systematische Kolonisierung dachte niemand; an die Möglichkeit, dass einmal Hunderttausende Europäer nach Amerika auswandern würden (freiwillig oder um sich vor Hunger oder Verfolgung zu retten), dachte nicht nur niemand, sondern hätte dies jemand prophezeit, er wäre für verrückt erklärt worden. Argumente der Art "wie sollen die Auswanderer ohne Hilfe in Amerika leben?", "wer würde denn freiwillig auswandern" und insbesondere "ein Schiff kann zusätzlich zur Besatzung höchstens 35 Personen über den Atlantik befördern; jede Reise dauert mindest zwei Monate und ist beschwerlich und gefährlich" hätten jede Diskussion offenbar im Keim erstickt. Dass im 20. Jahrhundert ein einziges großes Dampfschiff pro Fahrt tausende Auswanderer nach Amerika bringen würde können und pro Jahr 20 und mehr Fahrten möglich sein würden (nur zehn solcher Schiffe also jährlich eine Million Auswanderer würden bewältigen können), das war 1520 einfach undenkbar (vom Flugverkehr ganz abgesehen!). Aber mehr noch: die meisten Menschen damals wussten gar nichts von der Entdeckung Amerikas, und hätten sie davon gehört, sie hätten sie als unwichtige Neuigkeit bald wieder vergessen.

Genau so verhalten sich die Menschen heute: viele haben keine detaillierte Ahnung über die Struktur unseres Sonnensystems; die meisten kommen, wenn man sie nach ein paar nahen Sonnen jenseits unseres Sonnensystems fragt, schon nach längstens Proxima Centauri und Sirius ins Stocken ... obwohl sich im Umkreis von "nur" 12 Lichtjahren um uns mehr als 30 Sonnensysteme befinden!

Dass einmal bemannte Stationen am Mond und Mars mit ein paar Menschen existieren werden, ist schon nur mehr einem Bruchteil der Menschen bewusst; dass diese Stationen innerhalb kurzer Zeit (100-200 Jahre) zu riesigen Kolonien mit vermutlich Millionen von Menschen wachsen werden, dass das All sich in den nächsten drei Jahrhunderten als die größte Chance, die die Menschheit je hatte, herausstellen wird, das sehen heute viel zu wenige.

Dieser Aufsatz ist aus dem Buch "Der Anfang" aus der XPERTEN-Reihe.

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