Natürlich essen!#
Immer mehr scheint sich die Ansicht durchzusetzen, dass man möglichst natürlich essen sollte: Das beginnt bei der Aufzucht von Tieren, die in ihrer natürlichen Umgebung, in der Natur und ohne künstliches Futter leben sollten, erstreckt sich über den Anbau von Gemüse, Getreide und Bäumen ohne Kunstdünger und unnatürliche Eingriffe, bezieht die Verwendung von Kräutern und Naturheilmittel anstelle von Medikamenten der pharmazeutischen Industrie ein und gilt natürlich besonders für das, was wir als Nahrung essen sollten: weit gehend Naturbelassen und unverfälscht.
Auf einen einfachen Nenner gebracht ist die Zusammenfassung wohl: Alles Natürliche ist gesund, Eingriffe in Natur gegebene Zustände sind tunlichst zu vermeiden.
Haben Sie als Leser bis hierher weit gehend zustimmend genickt? Ja? Dann tut es mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Sie meiner Meinung nach wie so viele andere einer Gehirnwäsche unterlegen sind!
Jede einzelne der oben aufgestellten Aussagen ist falsch.
Damit kein Missverständnis aufkommt: selbstverständlich bin auch ich für gesundes Essen (nur heißt das nicht notwendigerweise natürliches Essen), selbstverständlich bin ich gegen Überdüngung von Böden, übermäßigen Medikamentenkonsum und für den Einsatz von oft Jahrhunderte langen Erfahrungen im Umgang mit der Natur, usw.
Nur nenne ich das dann maßvolles, gesundes, ausgewogenes, wohlüberlegtes Essen bzw. Umgang mit Nahrungsmitteln; der Begriff "natürlich" trifft ein solches Verhalten nicht.
Im Folgenden gebe ich für alle zu Beginn dieses Beitrags angeführten Aussagen einige Beispiele, warum ich diese für falsch halte, zumindest in den überspitzten Formulierungen, die verwendet wurden.
Die Aussage "Alles Natürliche ist gesund", ist wohl am offensichtlichsten ein Unsinn. Schließlich sind z.B. Tollkirschen und Satanspilze natürlich und schön, als besonders bekömmlich wird sie aber niemand einstufen. So delikat Bambussprossen in einem chinesischen Gericht schmecken, die Rinde einer Korkeiche (die genauso natürlich ist) stellt relativ hohe Anforderungen an unseren Kauapparat und ist nur auf wenigen Speisekarten zu finden.
Aber selbst wenn man von so extremen Fällen absieht, dann sind auch natürliche Speisen wie etwa Hirn mit Ei, wenn man sie regelmäßig isst, schlichtweg lebensgefährlich, da sie die Arterienverkalkung (d. h. die Ablagerung von Cholesterin in Arterien) und damit die Wahrscheinlichkeit eines Hirnschlages oder Herzinfarktes dramatisch erhöhen, oder sind so natürliche Produkte wie Alkohol oder Opium doch auch nicht im Übermaß zu empfehlen.
Die Feststellung "Eingriffe in Natur gegebene Zustände sind tunlichst zu vermeiden", ist auf Grund des Wortes "tunlichst" so vage, dass man sie vielleicht noch halb akzeptieren kann. Dennoch, wenn ich als Imker meine Bienenstöcke in die Nähe blühender Bäume führe, dann ist dies ein sinnvoller Eingriff; wenn bei langer Trockenheit die Kühe auf der Weide kein Frischgras mehr finden, wird eine Zufütterung notwendig... und wenn das Wasser auf der Weide ausgeht, dann eine "künstliche" Wasserversorgung erst recht.
Auch der Unterstand für Tiere bei Schlechtwetter, der Salzleckstein für Almvieh oder das Kalken eines Pfirsichbaumes, um zu frühes Austreiben zu verhindern: all das sind Eingriffe in den natürlichen Zustand, die vernünftig sind.
Die Natur ist weder gut noch böse; sie verhält sich vielmehr so, dass wir immer wieder korrigierend eingreifen müssen. Wozu hätten wir auch sonst ein Gehirn im Kopf?
Wer die Natur an sich für gut hält, der scheint zu übersehen, dass es Kälte, Blitz, Hagel, Stürme, Trockenheit, Erdbeben, Vulkane, usw. gibt, gegen die wir uns und unsere Nahrungsquellen natürlich schützen müssen. Dass wir "Nahrung weitgehend naturbelassen und unverfälscht essen sollten", ist eine Meinung, die einfach lächerlich ist.
Selbstverständlich sollen wir Nährstoffe in der Nahrung nicht zerstören, indem wir z.B. beim Gemüsekochen alle Vitamine vernichten, beim Getreidemahlen wichtige Teile des Getreidekorns wegwerfen, um Weißmehl zu erhalten, beim Raffinieren von Zucker wichtige Spurenstoffe entfernen, um nur einige Beispiele zu erwähnen.
All das heißt aber noch lange nicht, dass wir Nahrungsmittel "naturbelassen" essen sollten. Jeder, der dies sagt, scheint zu vergessen, dass die wenigsten Menschen ihr Schnitzel roh essen, obwohl das "Verkohlen" von Fleisch (ich zitiere Tarzan aus dem ersten - sehr guten - Band der Tarzanreihe von Edgar Rice Burroughs) zu den sicherlich unnatürlichsten Dingen gehört, die man einem Nahrungsmittel antun kann!
Ich halte auch rohen Hering in Sushi- Form für weniger schmackhaft und weniger bekömmlich als marinierten Fisch, nicht zuletzt weil durch Kochen, Räuchern und Marinieren diverse Krankheitserreger (Salmonellen in Hühnern, Trichinen in Schweinen, Würmer in Fischen, ...) abgetötet werden.
Die "unnatürliche" Zubereitung von Fleisch ist also nicht nur eine Frage des Geschmacks oder der Gewöhnung, sondern macht dieses auch gesünder. Die Aufbereitung von Lebensmitteln für den menschlichen Genuss wird häufig dort als natürlich empfunden, wo sie schon lange so gemacht wird, und unnatürlich sonst.
So betrachten Österreicher häufig z.B. Erdnussbutter als "unnatürlichen Quatsch aus Nordamerika" - obwohl der Herstellungsprozess ähnlich wie bei Margarine verläuft, während im Grunde schon recht komplexe (und das heißt doch wohl künstliche?) Methoden, um Käse durch Fermentierung zu gewinnen, um Weintrauben über die Zwischenstufen Traubensaft und Wein in Essig zu vergären, usw. als natürlich angesehen werden.
Warum eine Leberpastete in Dosen manchen Menschen natürlicher vorkommt als tief gefrorenes Gemüse, habe ich nie verstanden, genau sowenig wie die Auffassung, dass Frankfurter Würstchen (wenig Fleisch mit viel Fett und Weißmehl vollständig homogenisiert) "natürlicher" und "gesünder" seien als Hamburger von McDonald's (mit weniger Fett und in denen die Struktur des faschierten Fleisches wenigstens noch ansatzmäßig zu erkennen ist).
Die Liste von Beispielen, dass wir Nahrung in den seltensten Fällen naturbelassen essen, lässt sich natürlich beliebig fortsetzen: Schließlich werden ja selbst Weizenkörner oder grüne Kaffeebohnen selten ohne entsprechende Verarbeitung konsumiert!
Die Bevorzugung von Kräutern und Naturheilmitteln gegenüber "künstlichen" Medikamenten mag in Einzelfällen insofern gerechtfertigt sein, als Heilkräuter seit vielleicht Tausenden von Jahren "getestet" worden sind, modernere Medikamente hingegen nicht (allerdings dafür sehr gründlich und in hohen Dosierungen). Man muss sich aber über vier Punkte vollständig klar sein:
Erstens können Dinge, die früher einmal gesund gewesen sind, dies auf Grund inzwischen geänderter Lebensbedingungen heute nicht mehr sein: eine Regel wie "Salz und Brot macht Wangen rot", ist nicht nur grammatikalisch falsch, sondern wird heute sicher nicht mehr als gültig angesehen (zuviel Salz ist eher ungesund, rote Wangen mögen durchaus Zeichen von Bluthochdruck sein).
Oder: "Butter und Schmalz - Gott erhalt's" erscheint heute - in Abwesenheit harter körperlicher Arbeit - als eine Empfehlung, zu viele gesundheitsschädliche tierische Fette zu essen.
Zweitens, auch wenn ein pflanzliches Produkt von der Menschheit Jahrhunderte lang verwendet wurde, schließt das tödliche Nebenwirkungen nicht aus. Ein klassisches Beispiel ist der Pilz Hallimasch, der bis in die siebziger Jahre als delikater Speisepilz galt und auch auf österreichischen Märkten angeboten wurde; dann verschwand er plötzlich und klammheimlich von den Märkten und aus der Liste der Speisepilze. Man hatte festgestellt, dass der Hallimasch ein Lebergift enthält, das sich nur sehr langsam abbaut und das in größeren Mengen tödlich ist.
Mit anderen Worten, man kann ohne jeden Schaden zu erleiden, ab und zu Hallimasch essen (in den Pausen dazwischen wird das Gift wieder abgebaut); isst man aber oft knapp hintereinander Gerichte mit Hallimasch, kann dies tödlich sein! (Dieser Effekt wurde aus offensichtlichen Gründen sehr spät entdeckt: Wenn z.B. sechs Leute an einem Tag Hallimasch essen und am nächsten Tag geht es fünf blendend, aber eine Person ist tot ... wer würde das dem Genuss der Hallimasch zuschreiben?)
Drittens, dort, wo man den Wirkstoff einer Pflanze genau identifiziert hat, ist die künstlich gewonnene Version genauso gut und besser dosierbar: "künstliches" Vitamin C erfüllt durchaus dieselbe Funktion wie jenes im Zitronensaft (ohne durch die Zitronensäure die Magenschleimhäute zu belasten), künstliches Vitamin D ersetzt die hohe Vitamin D Konzentration in Lebertran vollwertigst, usw.
Viertens und vielleicht am Entscheidensten: Es gibt viele Probleme, denen man durch Heilpflanzen nicht oder nicht gut beikommt, die aber durch künstlich hergestellte Medikamente vollkommen gelöst werden können. Paradebeispiel dafür sind natürlich die Antibiotika, die gefährliche Krankheiten wie Pest und schwerste Entzündungen besiegen; oder Impfungen, die uns heute vor unzähligen Infektionskrankheiten schützen, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Ohne moderne Medikamente wäre unsere Lebenserwartung entscheidend kleiner!
Auch die Behauptung, dass man "beim Anbau von Gemüse, Getreide und Bäumen ohne Kunstdünger und unnatürliche Eingriffe" auskommen sollte, ist unhaltbar: Sie klingt nur so gut in den Ohren von vielen Menschen, weil man in der Vergangenheit oft tatsächlich überdüngt hat, Pestizide, die sich kaum mehr abbauen (DTD), in riesigen Mengen eingesetzt hat, u.v.m.
Der maßvolle Eingriff in die Natur, nicht der Rückschritt in die Steinzeit des Gemüse-, Getreide oder Obstbaus ist die Antwort. Wer würde nicht Obstbäume entsprechend veredeln und trimmen, oder Gemüsepflänzchen aus dem Saatbeet aussetzen (was für unnatürliche Vorgänge!). Und wenn eine Bodenfläche besonders sauer, lehmig, salzhaltig oder was auch immer ist, ist der maßvolle Einsatz entsprechender Chemikalien durchaus gerechtfertigt.
Am deutlichsten wird das an Hand eines konstruierten Beispiels klar. Betrachten wir doch ein saures Grundstück, das an einer Seite an Kalkfelsen angrenzt. Durch einfaches Zermahlen von etwas Kalkgestein und Aufstreuen dieses Kalkmehls wird das zuvor saure Grundstück PH-neutral und fruchtbar: der Eingriff hat nur einen sonst lang dauernden Verwitterungsprozess des Kalkfelsens vorweggenommen. Er stellt gleichzeitig nichts anderes als eine Kunstdüngung dar.
Auch die allererste Behauptung in diesem Beitrag, dass "Tiere in ihrer natürlichen Umgebung, in der Natur und ohne künstliches Futter leben sollten", ist nicht mehr als eine Floskel. Eine natürliche Umgebung für ein Haustier gibt es ja erstens gar nicht; ein Rind würde sich ferner ziemlich bedanken, wenn man es im Winter nicht mit Heu versorgen würde (ein sehr künstlicher Vorgang!) oder wenn es im Freien stehen müsste. Wenn das Trockenfutter über längere Zeiten Vitaminmangel bei Tieren auslöst, ist ein Vitaminzusatz im Interesse der Tiere.
Dass man gewisse Grenzen bei Tieren nicht überschreiten sollte (etwa Hormonbehandlung bei Tieren genau sowenig wie Doping bei Sportlern) ist selbstverständlich. Zusammenfassend sind Aussagen über die Bedeutung des "natürlichen Essens" mit größter Vorsicht zu genießen.
Erstens gibt es vieles in der Natur, was sicher ungesund bzw. nicht essbar ist; zweitens ist die Definition von "natürlich" vollständig unklar. Ist ein geschälter Apfel natürlich und sollte er daher ungeschält gegessen werden? Wenn nein, sollen wir auch die Orangen mit Schalen essen? Ist Schmelzkäse natürlicher als Löskaffee? Wenn ja, warum? Usw.
Insgesamt sehen Natur- und Biofreaks die Welt enorm schwarz-weiß, Natur (was immer das ist) ist gut, künstliche Erzeugnisse (was immer man darunter versteht) sind schlecht. Diese Haltung erinnert mich sehr an den Ehrenkodex in Rittersagen, an die moralische Welt der Westernhelden und an all die vielen anderen Situationen, wo extreme Standpunkte ohne maßvolle Zwischenlösung eingenommen werden.
So langweilig die Aussage ist, sie gilt auch hier, also beim Essen, bei der Herstellung von Nahrungsmitteln und bei der Aufzucht von Tieren und Pflanzen: der richtige Weg liegt irgendwo zwischen den Extremen.
Dieser Aufsatz ist aus dem Buch "Der Anfang" aus der XPERTEN-Reihe.