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Mythos St. Gotthard, Durchlöchert #

Der Gotthard-Basistunnel ist mehr als ein langes Loch durch einen hohen Berg. Er durchbohrt eine Jahrhunderte alte Geschichte. Eine Einladung zum Staunen. #


Mit freundlicher Genehmigung der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (Donnerstag, 22. Dezember 2016)

Von

Wolfgang Machreich


Gotthard Basistunnel
Gotthard Basistunnel
Foto: AFP / Fabrice Coffrini

Die Schweizer können auf vieles stolz sein, stolz auf ihre Löcher sind sie aber am liebsten – egal ob die im Käse oder die im Berg. Dementsprechend nationalstolzdick trägt auch die Schweizer TV-Werbung für den Gotthard-Basistunnel auf: „Um den längsten Eisenbahntunnel der Welt zu bauen, braucht es nicht nur ganz besondere Menschen, es braucht ein ganz besonderes Land. Durch und durch die Schweiz.“

Solcherart aufpatriotisierte Schweizer sitzen im „Gottardino“, dem Testzug, der zwischen der Eröffnungsfeier im Juni dieses Jahres und der Inbetriebnahme der Strecke zum internationalen Fahrplanwechsel am 11. Dezember den Basistunnel durchfahren hat und – Sensation – mitten im Berg ein kurzes Aussteigen erlaubte. Vereinzelt mischten sich internationale Fahrgäste unter die Basistunnel- Testfahrer. Alle aber ausgestattet mit einem „Pionierpass“ im CH-Design (weißes Kreuz auf rotem Grund) und angelockt von den Superlativen, die diesen Tunnel mehr sein lassen als bloß ein langes Loch durch einen hohen Berg. Der Gotthard war immer schon ein Ereignis, nicht umsonst hat ihm Goethe „den Rang eines königlichen Gebirges über allen anderen“ gegeben; und der Basistunnel reiht sich nahtlos in die lange „Prädikat wertvoll“-Liste ein, die ebenfalls der Geheimrat aus Weimar 1779 mit seinem Startschuss für die Gotthard-Fremdenverkehrswerbung begonnen hat: „Mir ist’s unter allen Gegenden, die ich kenne, die liebste und interessanteste.“

Ein Tunnel der Superlative #

Beeindruckend ist bereits das Zahlenwerk, das den Tunnel in die Baustellen-Liga der ägyptischen Pyramiden, der chinesischen Mauer oder heutiger Gigantomanie- Wolkenkratzer einreiht: über 28 Millionen Tonnen Gestein bewegt; über 4 Millionen Kubikmeter Beton verarbeitet; über 12 Milliarden Schweizer Franken gekostet; über 150 Kilometer lang das gesamte Stollensystem; über 40 Grad Celsius in manchen Tunnelabschnitten und bis zu 2300 Meter hohe Gesteinsmassen über den beiden jeweils 57 Kilometer langen Tunnelröhren.

Experten haben gezweifelt, dass angesichts des riesigen Bergdrucks eine Untertunnelung des Gotthard-Massivs technisch möglich sei. Doch „Viribus unitis“ – getreu dem Kaiser Franz Joseph- Motto (in gewisser Weise ja auch ein Schweizer) – wurde die längste Abkürzung der Welt durch das Gotthard-Massiv gefräst: 1992 fiel mit 64 Prozent Ja-Stimmen beim Volksentscheid für die neuen Eisenbahn- Alpentransversalen der Startschuss. 2006 der erste Durchstoß, 2010 war die Oströhre ausgebrochen, 2011 die Weströhre. Eine Planungsabweichung von 0,00014 Prozent lässt an die sprichwörtliche Genauigkeit Schweizer Uhrbrav macher denken. Doch gelungen ist dieses „Wunder vom Gotthard“ (© Süddeutsche Zeitung) einem internationalen Spezialistenteam von 2300 Bauarbeitern aus zehn Nationen – darunter auch 600 Österreicher, die in diesem „Tunnel zu Babel“ werkten.

Insofern ist der „Pionierpass“ auch für österreichische Gottardino- Fahrer mehr als verdient; und ein wenig Stolz auf österreichische Ingenieursleistung verträgt die „Wiege der Schweiz“ allemal. Beim Gotthard drängt sich sogar der Verdacht auf, dass dieser der einzige Mythos ist, der durchlöchert noch größer und hehrer wird. Der Berner Martin Immenhauser, militärischer wie historischer Gotthard- Kenner, sagt über dieses Schweizer Beziehungs-Paradox: „Wir lieben den Gotthard, jeder von uns hat eine Beziehung zu ihm. Aber wir machen alles, um ihn immer wieder zu eliminieren. Wir bauen Tunnel und Straßen. Wir fahren über ihn drüber oder unten durch. Jetzt sind wir so weit, dass wir ihn gar nicht mehr spüren.“

Für die Gottardino-Pionierfahrer galt das nicht. Die rochen nach dem Aussteigen aus dem Zug in einer der Nothaltestellen die feuchtmodrige Tunnelluft, spürten die Bergwärme, sahen vor und hinter ihren erleuchteten Waggons die sich in vollkommene Finsternis verlierende Tunnelröhre und bekamen eine Ahnung, wie tief man in den Mythos eingetaucht ist. Zu Fuß ging es in eine der Multifunktionsstellen, eine separate Röhre neben dem Bahntunnel. Im Notfall werden hier die Zugpassagiere evakuiert.

Schweizer Stolz #

800 Meter darüber liegt die Graubündner Ortschaft Sedrun. Beim Tunnelbau wurde von Sedrun aus ein Zwischenangriffsstollen gelegt. Graubündner Politiker bewarben daraufhin die Idee, den Schacht als permanente Umsteigestation für die Ski-Region Sur weit, dass wir ihn gar nicht mehr spüren.“

Für die Gottardino-Pionierfahrer galt das nicht. Die rochen nach dem Aussteigen aus dem Zug in einer der Nothaltestellen die feuchtmodrige Tunnelluft, spürten die Bergwärme, sahen vor und hinter ihren erleuchteten Waggons die sich in vollkommene Finsternis verlierende Tunnelröhre und bekamen eine Ahnung, wie tief man in den Mythos eingetaucht ist. Zu Fuß ging es in eine der Multifunktionsstellen, eine separate Röhre neben dem Bahntunnel. Im Notfall werden hier die Zugpassagiere evakuiert.

Schweizer Stolz #

800 Meter darüber liegt die Graubündner Ortschaft Sedrun. Beim Tunnelbau wurde von Sedrun aus ein Zwischenangriffsstollen gelegt. Graubündner Politiker bewarben daraufhin die Idee, den Schacht als permanente Umsteigestation für die Ski-Region Surselva und Graubünden zu nützen. „Porta Alpina“ sollte die tiefste in einem Berg liegende Bahnstation der Welt mit dem weltweit höchsten und schnellsten Lift werden – schließlich wurde das Projekt aber aus Kosten- und Effizienzgründen ad acta gelegt. Was beim Schweizer Stolz auf ihre Löcher und dem Gotthard’schen Drang zum Superlativ aber keineswegs heißt, dass diese Himmelstür in die Schweizer Alpen für immer geschlossen bleibt. Für die Gottardino-Passagiere wurde zumindest schon einmal der Stempelschalter in der Multifunktionsstelle Sedrun geöffnet. Schnell war Schluss mit Fotografieren, Staunen, dem Studium der Info-Tafeln und alle stellten sich Uhrbrav in die Schlange, um den Originaltunnelstempel in den Pionierpass zu bekommen und damit auch offiziell beglaubigt stolz sein zu dürfen.

Stolz oder gar Freude – für die echten Gotthard-Pioniere war das kein Motiv, sich über diesen Berg zu wagen. Für sie war die Tour eine gefährliche Notwendigkeit. „Gott, gib mich meinen Brüdern zurück, damit ich sie warnen kann, diesen qualvollen Ort zu meiden“, betete ein englischer Mönch, als er im Mittelalter den Gotthard-Pass am Weg nach Rom überquerte. Johann Joachim Winckelmann verhängte am Gotthard die Fenster seiner Kutsche, um sich den Anblick der Bergwelt zu ersparen. Und der Aschaffenburger Schriftsteller Wilhelm Heinse, der 1780 nach Italien reiste, hat am Pass nur mehr den Tod vor Augen: „Bester Freund, hier ist wirklich das Ende der Welt. Der Gotthard ist ein wahres Gebeinhaus der Natur. Statt der Totenknochen liegen ungeheure Reihen von öden Steingebürgen, und in den tiefen Tälern auf einander gehäufte Felsentrümmer da.“

Symbol für Einheit der Schweiz #

Auf einem dieser Felsentrümmer am Gotthard-Pass sitzt in Bronze gegossen der russische Generalissimus Alexander Wassiljewitsch Suworow auf einem von einem Älpler geführten Pferd. Angeblich ließ sich der geniale Stratege ja in einer Sänfte über den Pass tragen, aber sei’s drum, der zerknirschte gen Himmel gerichtete Blick der Figur trifft Suworows damalige Stimmungslage sehr gut. Der strapaziöse wie verlustreiche Zug seiner Armee von Italien über die Alpen, um die Franzosen aus der Schweiz zu vertreiben, war letztlich völlig umsonst. Zur entscheidenden Schlacht bei Zürich kam er zu spät, und diese Schweiz-Expedition bedeutete das schmachvolle Ende dieses ruhmreichen Feldherren – der aus Gram darüber gleich im Jahr darauf verstarb.

Den Schweizern aber brachten diese Befreiungskämpfe den Ruf ein, unbesiegbare Krieger zu sein und ihre Eidgenossenschaft gegen jeden verteidigen zu können. Auch das symbolisiert der Gotthard: die Unabhängigkeit und die Einheit der Schweiz. Nicht umsonst steht unweit vom Bahnhof Flüelen, an dem der Gottardino-Testzug seine Pionier- Reisenden wieder entlässt, eine den Rütlischwur darstellende Skulptur. Denn auf ihren Zusammenhalt über Sprach- und Mentalitätsgrenzen hinweg sind die Schweizer neben ihren Löchern natürlich auch stolz, und das zurecht. Ein Stolz, den gerade zum Gotthard passend der deutsche Schriftsteller und Büchner-Preisträger Helmut Heißenbüttel einmal schön beschrieben hat: „Wie viele Völker sind seither über den Sattel gezogen; für kurze Zeit sesshaft geworden. Gekommen wie Feuer, gegangen wie Rauch. Aber das glückliche Dazwischen, dieses Hier und Heute an diesem wundervollen Ort.“

DIE FURCHE, Donnerstag, 22. Dezember 2016


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