Buch, Blatt und Schmierzettel#
Wie zwei gewichtige Publikationen beweisen, hat die derzeitige Kulturwissenschaft ein lebhaftes Interesse an allen möglichen Methoden des Speicherns und Bewahrens.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 24. November 2012) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Hermann Schlösser
Einmal rief eine Dame aus Wels in der Redaktion der "Wiener Zeitung" an: Sie habe auf dem Markt einen Salat gekauft, der in die Wochenendbeilage "extra" eingewickelt gewesen sei. Beim Essen ihrer Salatblätter habe sie die bedruckten Papierblätter mit Vergnügen gelesen und wolle nun die Zeitung abonnieren.
Das ist eine schöne Geschichte. Nicht nur, weil sie ein Kompliment an das Printmedium ist, das Sie gerade in Händen halten (um nach der Lektüre wer weiß was damit zu tun), sondern auch, weil sie anschaulich von der unendlichen Zirkulationsfähigkeit des Papiers berichtet. Zu den vielen guten Eigenschaften dieses Materials gehört ja seine vielseitige Verwendbarkeit. Man kann bedrucktes Papier nicht nur lesen, sondern auch etwas darin verpacken; ebenso lassen sich feuchte Schuhe damit ausstopfen oder frisch geputzte Fenster polieren - und selbstverständlich waren alte Zeitungen in weniger hygienebewussten Zeiten auch als Toilettenpapier sehr beliebt.
Ein altes Gebrauchsgut#
Wer sich für die diversen Verwendungen des Papiers genauer interessiert, wird das Buch "Weiße Magie" von Lothar Müller mit Vergnügen lesen. Müller, Feuilletonredakteur der "Süddeutschen Zeitung" und Honorarprofessor an der Berliner Humboldt-Universität, verfolgt in seiner Studie die außerordentlich lange "Epoche des Papiers" von den Anfängen in China über die handwerkliche Perfektionierung in Arabien bis zur industriellen Fertigung in Europa und Amerika.
Obwohl sich Müller gründlich mit den technischen Details der Papierherstellung befasst, ist sein Buch doch keine reine Technikgeschichte. Der Verfasser betrachtet das Papier und dessen Gebrauch nämlich vor allem in kulturellen Zusammenhängen. Er berichtet, wie sich aus der schon sehr alten Spielkarte allmählich die Karteikarte entwickelte, er lässt die Entstehung und Verbreitung des Papiergeldes Revue passieren und anderes mehr.
Erfreulicherweise stellt Müller auch Schriftsteller vor, die den Umgang mit dem Papier zum Thema ihrer Texte gemacht haben. Insbesondere im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der entstehenden Papierindustrie und (damit zusammenhängend) der großen Zeitungen, wird er fündig. In Romanen von Honoré de Balzac, Charles Dickens oder Henry James werden Geschichten erzählt, die mit Papierherstellung und -verwendung zu tun haben. Und Heinrich Heine, der mit der damals ganz neuen Idee des Kommunismus sympathisierte, fürchtete dennoch, die Kommunisten der Zukunft könnten seinen berühmtesten Gedichtband auf prosaische Weise gebrauchen: " . . . ach, mein Buch der Lieder wird dem Gewürzkrämer dienen, um daraus Tüten zu drehen, in die er Kaffee oder Tabak schütten wird für die alten Weiber der Zukunft."
Dies ist ein schönes Beispiel für eine verfehlte Prophezeiung, denn Heines "Buch der Lieder" erfreut sich bis zum heutigen Tag großer Beliebtheit. Man kann es beim Online-Anbieter Amazon ebenso finden wie bei Google Books. Mit den tütendrehenden Gewürzkrämern hingegen ist es heutzutage eher schlecht bestellt, und vom Kommunismus brauchen wir gar nicht erst zu reden.
Trotzdem ist der Satz auf eine andere Weise nur zu wahr. Denn mögen Heines lustig-sentimentale Verse auch nach wie vor geliebt werden, so kennt die Nachwelt doch von den meisten literarischen Werken der Vergangenheit nur noch den antiquarischen Materialwert.
Papier und Schrift#
Über alle Einzelheiten hinaus ist Müllers Buch aber auch ein kulturtheoretischer Entwurf, der geeignet ist, gängige Auffassungen zu modifizieren. In vielen Kulturtheorien wird die Entstehung der Schriftlichkeit in Opposition zur Mündlichkeit verstanden. Das ist durchaus sinnvoll, denn im Gegensatz zur mündlichen Überlieferung gewährleistet die Schrift (zumindest potenziell) die Haltbarkeit des Gedankens.
Müller erweitert diese geläufige Sicht jedoch, indem er nicht nur Geschriebenes mit Gesprochenem vergleicht, sondern auch das auf Papier Geschriebene mit Texten, die etwa in Stein gemeißelt auf einem Grab oder einem Denkmal stehen.
Mit diesem Trägermaterial verglichen, ist das Papier leichtgewichtig und vergänglich. Das aber war, nach Müler, die Voraussetzung dafür, dass es zum Medium der alltäglichen Kommunikation werden konnte, während beschriftete Steine nur als würdige Gedenkzeichen in der Landschaft herumstehen.
Müllers zweite Revision des kulturwissenschaftlichen Nachdenkens betrifft die Rolle der Schrift im Geschichtsverlauf. In vielen historischen Darstellungen wird die mediale Entwicklung mit Hilfe schriftbezogener Zäsuren gegliedert: Der Übergang von der Handschrift zum Buchdruck in der frühen Neuzeit wird als ebenso wichtiger Einschnitt verstanden wie die derzeitige Ablösung des Drucks durch elektronische Vervielfältigungsverfahren.
Nun bestreitet auch Lothar Müller nicht, dass die digitalen Möglichkeiten der Textspeicherung und -darstellung eine gewichtige Konkurrenz (oder Ergänzung, je nach Blickpunkt) zu den herkömmlichen Methoden darstellen. Allerdings ist er nicht der Meinung, dass deshalb auch die Tage des Papiers gezählt seien.
Müller räumt zwar ein, dass der gute alte Druck einiges von seiner Bedeutung verloren hat, seit das "Ausgedruckte dem Gedruckten an die Seite getreten" ist. Aber er lässt sich von den Programmen des "papierlosen Büros" nicht beeindrucken. Da das Papier als Träger von Schriftzeichen älter sei als der Buchdruck, so meint er, könne es diesen auch mühelos überleben.
Als Indiz für dieses Weiterleben führt Müller nicht nur die besagten Ausdrucke an, sondern auch die diversen Zettelwirtschaften, die nach wie vor in schönster Blüte stehen: vom Post-it an der Pin-Wand über die Kritzeleien beim Telefonieren und das Scrap-Book, in dem Bilder, Zeitungsausschnitte und dergleichen gesammelt werden, bis hin zum Kalender und zum sorgsam geführten Tage- und Notizbuch.
Kritzler und Schmierer#
All diesen papierenen Produkten ist gemeinsam, dass sie nicht gedruckt und veröffentlicht werden, sondern zum individuellen Gebrauch bestimmt sind. Es ist also nicht jedes einzelne dieser Dokumente von Interesse, wohl aber lohnt sich die Beschäftigung mit dem Phänomen im Ganzen. Denn das "ungebundene Schreiben", wie Müller es nennt, ist ohne Zweifel ein wesentliches Element unserer Schriftkultur.
Um derartige Untersuchungen vorzunehmen, muss man sich auf die Bestände gut sortierter Archive stützen. (Diese Archivstudien sind, nebenbei bemerkt, in den Kulturwissenschaften mittlerweile dermaßen beliebt, dass man schon fast befürchten muss, das Verständnis für die gleichsam inoffizielle Textproduktion werde die Liebe zu repräsentativen literarischen Werken überholen. Vielleicht kommt es bald dazu, dass man im Archiv jeden Schmierzettel beachtlich findet, während in den Bibliotheken die Gesamtausgaben ungelesen verstauben. )
Da aber die neuere Kulturwissenschaft ausgesprochen reflexiv vorgeht, thematisiert sie nicht nur die diversen Bestände dieser und jener Archive, sondern auch den Prozess der Archivierung selbst: Was hat Platz in einem Archiv, was nicht? Diese Frage wird in dem Sammelband "Gewalt der Archive" behandelt. Im Unterschied zu Müllers seriösem Sachbuch ist dieser Band von exquisiter Wissenschaftlichkeit, was im Klartext heißt: Nicht-Fachleute werden ihn nur unter Mühen lesen. Wer aber vor sperriger Gelehrtenprosa nicht von vorneherein zurückschreckt, kann aus diesem Buch, das die Ergebnisse eines groß angelegten Forschungsprojekts dokumentiert, manches Interessante lernen.
Um ein Beispiel aus vielen möglichen herauszugreifen: In seinem Aufsatz über die Archivierung von Schiffbrüchen berichtet Burkhardt Wolf, dass viele Seeunglücke vergangener Zeiten in den Archiven unzulänglich dokumentiert wurden - sei es, dass die wahren Ursachen des Schiffbruchs nicht zu eruieren waren, sei es, dass jemand ein Interesse daran hatte, sie zu verschleiern.
Seit es aber die Meeresarchäologie gibt, steigen Taucher in die Tiefen der Ozeane hinunter und finden dort die Wracks, die manches von dem preisgeben, was in den schriftlichen Überlieferungen verschwiegen wurde. Die Arbeit am Objekt ersetzt hier also einmal die Arbeit am Text.
Gewalt und Gedächtnis#
Und nun stellt sich die Frage, warum schon im Titel dieses Buchs von der "Gewalt" der Archive die Rede ist. Denn eigentlich gibt es in der menschlichen Gesellschaft doch wesentlich gewalttätigere Institutionen als die Archive. Wer jedoch (wie die meisten Autorinnen und Autoren dieses Bandes) in den Bahnen Michel Foucaults oder Jacques Derridas denkt, verleiht dem Begriff "Archiv" eine geradezu totalitäre Bedeutung: Bezeichnet wird damit so etwas wie die Summe aller tradierten Wissensbestände. Und in diesem Sinn verstanden, übt das Archiv tatsächlich eine gewisse Gewalt aus. Denn entscheidend ist, wer über die Archivwürdigkeit eines Dokuments verfügt, und was mit all dem geschieht, was keinen Platz im Archiv des gesellschaftlichen Gedächtnisses findet. Höchstwahrscheinlich fällt es der Bedeutungslosigkeit anheim.
Wer diese "Gewalt der Archive" unterlaufen will, muss also versuchen, so viel wie möglich als bewahrenswert anzusehen. Sowohl Lothar Müllers Kulturgeschichte des Papiers als auch der Sammelband über die Archive sind Belege für die Bemühung der aktuellen Kulturwissenschaft, einstmals unbeachtete Wissensbestände zum Sprechen zu bringen.
Hermann Schlösser, geboren 1953, ist Germanist und Anglist, Sachbuchautor und Redakteur des "extra" der "Wiener Zeitung".
Information#
Lothar Müller: Weiße Magie.Die Epoche des Papiers. Hanser, München 2012, 383 Seiten.
Thomas Weitin/ Burkhardt Wolf (Hg.):Gewalt der Archive.Studien zur Kulturgeschichte der Wissensspeicherung. konstanz university press, Konstanz 2012, 410 Seiten.