Kraxln am Mythos #
Vor 80 Jahren gelang Heinrich Harrer die erste Durchsteigung der Eiger-Nordwand. 50 Jahre später wagen drei Freunde das Unmögliche. #
Mit freundlicher Genehmigung aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (26. Juli 2018)
Von
Wolfgang Machreich
Ein Butterbrot so groß wie ein Tischtennisschläger trieb mich in die Eiger-Nordwand. Die Idee hatte ich mir von Heinrich Harrer abgeschaut. Der war einmal an meine Schule gekommen, ein alter Mann mit weißen Haaren, mit ein paar Dias und sehr leiser Stimme und brachte zuwege, woran Lehrer-Kompanien scheiterten: hunderte Schülerinnen und Schüler hingen an seinen Lippen, und er verzauberte mich. Von da an war mein Winnetou ein alter Mann mit weißen Haaren, ein Bergsteiger, ein Abenteurer. Und mein Apachenland war Tibet, Papua Neuguinea, die Quelle der Steinäxte und quasi ums Eck die erste Etappe zu all diesen Weltwundern die Eiger-Nordwand.
Vor 80 Jahren, vom 21. bis zum 24. Juli 1938, durchstiegen die beiden Münchner Anderl Heckmair und Ludwig Vörg mit dem Wiener Fritz Kasparek und dem Steirer Heinrich Harrer die Eiger-Nordwand. Wir, zwei Freunde und ich, mit der Lehre gerade fertig, mit dem richtigen Leben gerade am Anfang, kamen 1988 wenige Tage nach den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag nach Grindelwald. Die Prominenz war abgereist, das Abenteuer geblieben. 1800 Meter hoch. Nordwand, die „so jäh in die Tiefe stürzt, als ob hier der ganze Berg abgeschnitten wäre“, wie ein erster vom Nordwestgrat in die Wand schauender Augenzeuge 1864 festhielt: „Glatt und absolut unersteigbar.“
Laut Edward Whymper, Erstbesteiger des Matterhorns, könnten Bergsteiger den Begriff „unmöglich“ nicht akzeptieren. Von 1935 an rannte dieser Typus in Gestalt von jungen und vor allem deutschen Männern gegen dieses Eiger-Unmöglich an – und stürzte ab, wurde erschlagen oder erfror. Die Presse ersetzte Nordwand durch „Mordwand“. Bis zur Erstbegehung starben neun Menschen in der Wand, bis zu unserer Durchsteigung gab es bereits 50 Nordwand-Tote.
Kaum feste Griffe #
Angst? Wer sich zu nachtschlafener Zeit aus dem Zelt auf der Almwiese unter der Eiger-Nordwand schält und sie nur mehr schwarz, nur mehr nass, nur mehr kalt und eisig vor und über sich sieht, spürt Beklemmung. Die ersten Seillängen den Zerschrundenen Pfeiler hinauf krabbelten wir mehr, als dass wir kletterten. Splittriger Fels, kaum feste Griffe, Tritte, viel Qual, viel Verhau. Wo war die am Glockner, an den Zinnen, im Kaiser antrainierte Sicherheit hin verschwunden? Zu Tagesanbruch regnete es kurz. Absteigen? Da meldete sich dieses Butterbrot so groß wie ein Tischtennisschläger. Ein Foto von der Erstbegehung zeigt, wie es Harrer in der Hand hält, in der linken, mit der rechten hält er sich am Seil, damit er nicht aus der Wand fällt.
Das Butterbrot passt nicht ins Bild, zu gastlicher Kontrast zur unwirtlichen Eigerwelt. Aber wenn der Harrer dort sein Butterbrot jausnen konnte, sagten wir uns, kann es so schlimm nicht werden. Eiger hin oder her, Butterbrot macht Wangen rot! Den vermurksten Einstieg hakten wir ab und kletterten weiter.
Durch Zufall zusammengebracht #
Im Unterschied zu uns Dreien waren die vier Erstbegeher 1938 keine eingeschworene Gruppe, nicht einmal Freunde. Der Zufall hatte sie zusammengebracht. Und der Ehrgeiz. Beide Gruppen wollten die Ersten sein, den Nordwand-Bann brechen, das „letzte Problem der Alpen“ lösen. Erst die Nazi- Propaganda wird aus ihnen ein von der Vorsehung erdachtes Symbol deutsch-österreichischer Schicksalsgemeinschaft machen. Harrer hatte keine Steigeisen mit, Kasparek ein veraltetes Paar, die Deutschen hingegen waren mit modernen Zwölfzackern unterwegs. Harrer schreibt in seinem „Buch vom Eiger“ über ihr Zusammentreffen: „Kein Wort fällt, das irgendeiner Enttäuschung Ausdruck gibt.“ Dass er das Thema anspricht, zeigt aber, wie Heckmair und Vörg wohl alles andere als froh über den Ösi- Klotz am gemeinsamen Seil waren.
Schwalbennest. Ein von einem Überhang geschützter steinerner Hochsitz. Ort von Harrers Butterbrotjause. Zu dritt sehr eng, aber wir hatten nur zwei Schlafsäcke, da hilft Nähe. Es war erst Vormittag, doch der Steinschlag hielt uns zurück: Besser auf die kalten Morgenstunden des nächsten Tages warten, wenn das Geröll angefroren, die Nordwand- Steinkanonen zwar geladen, aber noch gesichert sind. Schauspieler Benno Fürmann beschreibt das in seiner Rolle als eines der ersten Eiger-Opfer Toni Kurz im Film „Nord- wand“ (2008) richtig: „Das hat nichts mit Klettern zu tun – das ist eine Lotterie!“ Wir blieben diese Nacht im Leo. Ums eine Eck der Hinterstoisser-Quergang, auf der anderen Seite das Erste Eisfeld. Ort des beklemmendsten Dramas der Alpingeschichte. Das Foto des wenige Meter über den Rettern am Seil baumelnden, sterbenden Kurz ging 1936 um die Welt. Hätten er und seine drei Gefährten in der Eiger-Lotterie gewonnen, wären ihnen im Olympia-Jahr Goldmedaillen, Führer-Händedruck und Rollen in den Riefenstahl-Filmen sicher gewesen. Doch von Hitler empfangen wurden erst zwei Jahre später die vier Erstbesteiger.
Wir folgten ihrem Kletterweg, Heckmair- Route genannt, denn vor allem seinem Kletterkönnen war die Durchsteigung zu verdanken. „Sein Gesicht ist vom Berg gezeichnet, hager, von scharfen Falten durchzogen, die Nase springt in kühnem Sprung vor“, beschrieb Harrer den Seilersten: „Es ist ein hartes, verwegenes Gesicht, das Gesicht eines Kämpfers, eines Mannes, der von seinen Gefährten viel, von sich selbst aber alles verlangt.“ Mit diesem Kämpfer-Gesicht konnten wir nicht mithalten, die paar Erinnerungsfotos zeigen vielmehr pausbäckig grinsende Halbstarke. Denen auf den rund vier Kletterkilometern nicht immer zum Lachen war. Wird es aber gar zu ernst, bietet die Nordwand einen Aufheller: Das Gesicht von der Wand wegdrehen und schon schaut man auf grüne Wiesen und grasende Kühe. Augenweide im Wortsinn, bevor mit der Kopfdrehung zurück wieder schwarz, nass, eisig, steinschlägig das Blickfeld füllen. Erstes und Zweites Eisfeld kamen wir gut voran, Danke, Zwölfzacker! Am Todesbiwak, 1935 erfroren hier die ersten beiden Nordwand-Aspiranten, jausneten wir. Keine Sentimentalitäten. So viele ebene Plätze gibt es in dieser Vertikalen nicht. Dann versperrte ein Wasserfall den Weg. Ob vereist oder wasserführend, mit diesem Riss zeigte der Eiger schon Kletter-Legenden wie Hermann Buhl oder Gaston Rébuffat die Zähne. Wir kamen drüber, aber das dauerte und danach waren wir nass bis auf die Haut. Beim folgenden Biwak im Götterquergang zeigten wir dann dem Eiger unsere Zähne – klappernd. „Die Weiße Spinne“, das berüchtigte Eisfeld mit Armen wie eine Spinne im oberen Wandteil, wartete beim Anbruch des dritten Tages in der Wand. Es schneite und schneite, und schneite es nicht, flogen die Steine. Umso schöner war das Weiß des Gipfeleisfeldes und die Gewissheit, bald oben und vor allem den Steinsalven entkommen zu sein. „Freude? Erlösung? Taumel des Triumphs? Nichts von alledem. Die Befreiung kommt zu plötzlich, unsere Sinne und Nerven sind zu abgestumpft“, beschreibt Harrer den Gipfelmoment der Erstbegeher. Wir waren da besser drauf: Juhu, endlich oben, endlich draußen!
Symbolische Schicksalsgemeinschaft? #
Harrer und die anderen Erstbegeher kamen für ihre sportliche Leitung in den innersten Kreis. Bei der Ehrung durch Hitler drehte sich das Gespräch um die vielen Opfer der Nordwand, schreibt Harrer, „da füge ich ein, dass 1936 zwei Bergsteiger aus der Ostmark und zwei aus dem Altreich zusammen in den Tod gegangen sind. Der Führer hebt den Kopf und seine großen Augen sehen uns klar an: ‚Das ist symbolisch.‘“ Womit er Recht behielt. Es dauerte nicht lange, und Altreich und Ostmark marschierten gemeinsam in den Tod.
Über die Westflanke marschierten wir hinunter, zurück in unsere horizontalen Leben, freuten uns über ein Bier in der Bahnstation Eiger-Gletscher, einen ebenen Platz ohne Steinschlag zum Schlafen und unten im Tal gab es Pizza, viel Pizza. Knapp zehn Jahre später wurden die „braunen Flecken“ an der Legende Harrer publik. Ich war nicht wirklich überrascht. Mit der Großmutter aufgewachsen, lernte ich, dass die Zwischentöne über diese Zeit die Haupttöne sind. Enttäuscht? Nein, zu der Zeit war mir schon klar, dass Jugendidole in gewissen Bereichen als Vorbilder taugen, ich mich mit den meisten aber nicht einmal auf einen Kaffee treffen möchte. Dankbar bin ich Harrer aber immer noch. Dass er mich in der Schulzeit mit seinem Bergsteigen, seinen Abenteuern, seinem Tibet verzauberte. Und vor allem, dass mich sein Butterbrot in die Eiger-Nordwand getrieben hat.