Wassersport als Lebensaufgabe#
Vor fünfzig Jahren starb der in Leipzig geborene, aber viele Jahre in Österreich tätige Sportpionier Kurt Wießner, der mit seinem "Natürlichen Schwimmunterricht" für eine nachhaltige didaktische Grundlage sorgte.#
Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 12./13. September 2015) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Gerhard Strejcek
Wer in der Online-Enzyklopädie "Wikipedia" das Stichwort "Schwimmen" aufruft, erhält einen instruktiven historischen Überblick über die Geschichte des Wassersports. Der Leser stößt in dem Artikel auch auf den Namen des deutsch-österreichischen Schwimmpioniers Kurt Wießner, der im Jahr 1925 den auf Ernst Pfuel (1805) und Johann Guts Muths (1798) zurückgehenden "mechanistischen" Zugang zur Schwimmschule durch einen neuen Ansatz revolutionierte.
Wießners Gedanken über eine ausgewogene und erfolgversprechende Lehrmethode mündeten in dem Werk "Natürlicher Schwimmunterricht". Sein Zugang entsprach dem Zeitgeist, erschien doch im Jahr 1936 ein Buch des Skiexperten Fritz Hoschek mit dem nicht unähnlichen Titel "Der natürliche Skiunterricht". Kernthese von Wießners illustrierter und häufig auch persönlich (etwa im Wiener Dianabad und in Warschau) demonstrierter Schwimmschule war der Verzicht auf mechanische Hilfsgeräte wie Angeln oder Leinen und eine didaktisch ausgeklügelte Gewöhnung der Schüler an das nasse Element. Am Beginn des Unterrichtsprozesses stehen weder Theorie noch Trockentraining, sondern Schwebeübungen im Schwimmbecken und die allmähliche Überwindung der Angst vor dem Untertauchen.
In diesem, für den Lehrerfolg maßgeblichen Punkt hatte schon die erste europäische Schwimmschule von Everard Digby um 1587 eine Vorreiterrolle gespielt. In seinem Werk "De arte natandi libri duo" (= "Zwei Bücher über die Schwimmkunst") gab der in Cambridge lehrende Theologe den künftigen Schwimmern Tipps, die er durch Holzschnitte verdeutlichte: Man solle langsam ins Wasser gehen, einen Gefährten aus Sicherheitsgründen mitnehmen und keinesfalls in unbekannte Gewässer springen, so der Pfarrer und Biophysiker, der aus Leicester stammte und sich fortan am Land (Rutland) der Betreuung von insgesamt drei Pfarreien und dem geliebten Freizeitsport Schwimmen widmete. Digby kann als der Ahnherr des Synchronschwimmens gelten, zeigte er doch eindrucksvolle Figuren im Wasser, die mehr der Ästhetik als der schnellen Fortbewegung verpflichtet waren. Die Ansichten in Digbys bahnbrechendem, von Charles Middleton 1596 auf Englisch übersetztem Werk illustrieren bereits Grundzüge des Rücken-, Seiten- und Brustschwimmens samt den damit verbundenen Bewegungen zur Wasserverdrängung, wogegen die Wettkampfstile Kraulen und Delphin späteren, außereuropäischen Entwicklungen entsprangen.
Wießners Schwimmschule verfolgte anders als jene Digbys weder einen ästhetischen noch einen leistungssportlichen Ansatz, sondern richtete sich an Schwimmlehrer und -warte, aber auch an die baulichen Planer und Gestalter der deutschen und österreichischen Bäder, die 1920 vielfach in einem hoffnungslos veralteten Zustand waren. Hatten die Flussbäder in Moldau, Spree und Donau zwar ein gutes Jahrhundert lang ihre Dienste geleistet, so entsprachen sie nicht mehr den Anforderungen an zeitgemäße Einrichtungen für das Schulschwimmen. Der Autor sprach sich daher für eine moderne und funktionelle Gestaltung der Ausbildungsstätten in der Weimarer Republik aus und konzipierte diese als gelernter Bautechniker (Absolvent der Leipziger Baugewerbeschule) gleich selbst.
Konzepte für Bäderbau#
Wießners Konzepte sollten im Schulunterricht und im Breitensport wertvolle Dienste leisten und hatten maßgebliche Auswirkungen auf den Bäderbau in mehreren europäischen Ländern (wie Niederlande, Dänemark, Polen). Selbst die gelungenen Beispiele des modernen Wiener städtischen Bäderbaus in den 1950er und 1960er Jahren, die zumeist unter Beauftragung des heute wegen seiner Rolle im NS-Staat umstrittenen Architekten Roland Rainer vor sich gingen, berücksichtigten diese Erkenntnisse und entwickelten Wießners Thesen weiter.
In der Tat ist eine übersichtliche und anheimelnde Atmosphäre in einem Schwimmbad von großer atmosphärischer Bedeutung. Befragt man heutige Wiener Schülerinnen und Schüler im Zuge des Schwimm-Sportunterrichts, so zeigt sich, dass sich diese in den Wiener Bädern in Simmering, der Großfeldsiedlung, Donaustadt, Brigittenau, Hietzing und Döbling am wohlsten fühlen, die alle einem einheitlichen und übersichtlichen Konzept folgen. Hingegen gelten Jörger- und Amalienbad zwar als bauhistorische Juwele, finden aber bei den jungen Schwimmschülern weniger Anklang, weil sie in den hohen Räumlichkeiten und der hallenden Akustik weniger Sicherheit verspüren.
Im Wesentlichen entsprach aber die Bauart der älteren Bäder dem state of the art der frühen Zwanzigerjahre. Auch in der Weimarer Republik konnte Wießner neue Akzente setzen. Eine Studie der Architekturhistorikerin Uta Maria Bräuer und ihres Kollegen Jost Lehne über die Geschichte der Berliner Bäder, die im Jahr 2013 erschienen ist, dokumentiert die Umsetzung von Wießners Thesen in den dortigen Schwimm-Einrichtungen.
Die ersten Schwimmbäder der deutschen Hauptstadt gehen übrigens auf denselben Urheber zurück wie die Prager Militärschwimmschule (1810) und vermutlich auch die Rekruten-Schwimmschule im Wiener Prater (1813), nämlich auf Ernst Henrich Adolf Ritter von Pfuel. Denn im Zuge der Befreiungskriege, in denen sich die nach Digby ausgebildeten französischen Soldaten auch als Schwimmer bewährten, kam der märkische Schwimmpionier als Major in österreichischen Diensten nach Prag und nach Wien. Er war mit Heinrich Kleist eng befreundet, wobei der Dichter und Dramatiker die Schwimmkünste Pfuels überschwänglich lobte.
Die von Pfuel entwickelte Brustschwimmtechnik, die ihm sogar den fälschlichen Ruf als "Erfinder" dieses Schwimmstils einbrachte, fand in Karl Csillagh einen interessierten Rezipienten, der seine Kenntnisse 1841 in einen Lehrbehelf für den "philanthropischen Schwimmmeister" goss. Aber auch Csillagh stellte wie einst Digby den Showeffekt spektakulärer Bewegungsabläufe und Sprünge (etwa über einen Barren) in den Vordergrund. Hingegen fehlte eine Unterrichtsmethode, um den meist jugendlichen Schülern die Scheu vor dem Wasser zu nehmen. Diesen Stand fand Wießner vor, als er sich für die Entwicklung der natürlichen Lehrmethode zu interessieren begann.
Da der Lebensweg des Leipziger Schwimmpioniers bald nach der Publikation seiner Studie 1924/25 nach Wien führte, ist die Biografie des gebürtigen Sachsen auch von besonderem Interesse für die österreichische Sportgeschichte. Wießner wurde am 14. Juli 1894 in Leipzig geboren und nahm als einundzwanzigähriger Soldat im Dienst Wilhelms II. am Ersten Weltkrieg teil, den er nur knapp nach einer schweren Verwundung (Schusswunde am Kopf mit Augenverletzung) überlebte.
In der Ära der Ersten Republik zog Wießner nach Wien und gründete, nachdem er - nicht zuletzt aufgrund seiner sportwissenschaftlichen und unterrichtspraktischen Leistungen - die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, eine Turn- und Gymnastikschule in der Bräunerstraße. Seinen Wohnsitz wählte Wießner gemeinsam mit Gattin und den beiden Töchtern in der Währinger Dittesgasse. Während der Sommermonate zog Wießner mit seiner Familie in eine Aussichtslage oberhalb des Klosterneuburger "Sachsenviertels", wo er 1928 einen Garten erwarb und mit Genehmigung des Bürgermeisters ein kleines Sommerhaus errichtete.
In Klosterneuburg tätig#
Von dort wanderte er unzählige Male ins Sportbad am Klosterneuburger Durchstich, dessen Umgestaltung als ursprüngliches reines Militärbad zu einer Bundeseinrichtung 1931 erfolgte. Heute liegt das noch intakte Bad in einem Kleingartenverein und ist nicht mehr öffentlich zugänglich. An interessierten Schwimmschülern mangelte es im idyllischen Vorort Wiens nicht, denn zu dieser Zeit bestand auch bereits das aus dem privaten Englbad 1913 hervorgegangene Klosterneuburger Strandbad auf einem Pachtgrund des Stiftes an demselben Nebenarm wie das Militär- und Sportbad, sodass sich zahlreiche Wassersportler (Schwimmer, Wasserballspieler, Zillen- und Kanufahrer) auf dem ruhigen Gewässer trafen.
Wassersport hatte in den 1930er Jahren wie die meisten Freizeittätigkeiten auch eine politische Implikation. Das zeigte sich auch im Klosterneuburger Raum, als im autoritären Ständestaat ab 1934 Parteienverbote wirksam wurden. Mit der NS-Machtübernahme hatte das Idyll für viele ein Ende, Juden wurden umgehend aus den Freizeitanlagen gewiesen und enteignet, die betroffenen Kabanen arisiert und verdienten "Parteigenossen" zugewiesen. Für Wießner, der selbst nicht verfolgt wurde, aber als Kriegsversehrter und Freiberufler um sein Auskommen bangen musste, erwies sich die Zwangsemigration und Deportation vieler seiner Schüler als fatal.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Sportunterricht an Schulen und Universitäten wieder langsam in die Gänge. Von einer Wiedererrichtung der Turnschulen in der Bräunerstraße und im Palais Ferstel konnte für den Schwimmpionier aber keine Rede sein, auch der Universitätssport blieb ihm verschlossen. Wießner war in dieser späten Phase seines Lebens im "Haus des Sportes" unter der Ägide des Unterrichtsministeriums tätig. Er widmete sich zudem der Konzeption von Sportsandalen und anderen orthopädischen Hilfsgeräten und weckte so unter anderem das Interesse des vielseitigen Masseurs und Fitness-Gurus Willi Dungl.
Am 16. September 1965 starb Wießner infolge eines Gehirnschlags, der auch mit seiner alten Kriegsverwundung im Zusammenhang gestanden war. Kurz zuvor hatte er noch das Goldene Ehrenzeichen der Republik für seine Verdienste um den Schwimmsport erhalten.
Gerhard Strejcek, geboren 1963 in Wien, Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Leiter des Zentrums für Glücksspielforschung an der Universität Wien.