Ein Essen für die Seele #
Die traditionelle Wiener Küche ist auf heimischen Speisekarten immer seltener anzutreffen. Eine kulinarische Tour.#
Von der Wiener Zeitung (25. Februar 2023) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Georg Biron
Im Paradies meiner Kindheit war die dämmersüchtige und sterbefaule Stadt an der Donau meine Welt. Vertraut und fremd zugleich. Und wenn wieder einmal ein Tag kam, an dem ein Besuch bei der Resi-Oma anstand, dann war das eine spannende Straßenbahn-Reise quer durch Wien.
Wenn sie die Türe öffnete, strahlte sie mich an, und ich wurde umarmt und abgebusselt. Dann betrat ich eine unsichtbare Wolke aus Gerüchen, die aus der Küche kamen und Geborgenheit vermittelten. Die Resi-Oma hatte bunte Kochtöpfe auf dem Herd, in denen immer etwas köchelte, blubberte, siedete oder dampfte - und duftete.
Sie war eine gelernte Köchin, die nicht nur eine Werksküche dirigiert hatte, sondern auch in ihrer Pension zeitweise von Grafen und Baroninnen engagiert wurde, die mit Köstlichkeiten verwöhnt werden wollten. "Die Wiener Küche", sagte sie, "ist die beste Küche der Welt. Vergiss das nie!"
Auch wenn unsere Familie zusammenkam, brillierte sie. Da wurde schon im Vorfeld geklopft, gekocht, gebacken, paniert und gedünstet - und sonst noch allerlei, was ich mir nicht gemerkt habe. Es gab viele Gewürze, die sparsam dazu verwendet wurden, die Speisen quasi in den Adelsstand zu erheben.
Aber die Resi-Oma konnte anscheinend nicht nur magisch kochen, sondern auch zaubern, denn sie sagte mir, ich solle doch bitte das Salz vom Tisch holen, und in dem kleinen Holzfass steckte dann zu meiner Überraschung ein 20-Schilling-Schein, den ich behalten durfte. Auf diese Weise hat die Resi-Oma für mich schon sehr früh die Erlebnisgastronomie erfunden.
Meine Resi-Oma ist jetzt schon lange tot. Und auch der alten Wiener Küche geht es gar nicht gut. Sie gibt kaum noch kräftige Lebenszeichen von sich und droht - wie das ganze Land - zu einem Mythos zu werden, zu einer Erinnerung an bessere Zeiten und zu einer haltlosen Behauptung, die sich ganz einfach widerlegen lässt.
"Das Bewusstsein für Qualität ist verloren gegangen", bedauert der Schauspieler und City-Gastronom Hanno Pöschl, der Koch, Kellner und Konditor gelernt hat: "Damals haben die Lehrbuben noch Watschn und Tritte gekriegt, aber die Ausbilder waren zumindest fachlich kompetent. Heute zweifle ich auch daran."
Neben dem berühmten Kleinen Café am Franziskanerplatz hat Hanno bis vor kurzem das Gasthaus Pöschl in der Weihburggasse zu einem gefragten Speiselokal mit vielen internationalen Presseberichten gemacht. "Über gutes Essen wird in Wien viel geredet, aber man findet es kaum noch wo", sagt Pöschl. "Oft ist es ein Fressen für die Geier. Die meisten Leut’ haben keine Ahnung, wo die Lebensmittel herkommen, wann welches Gemüse Saison hat, oder wie gesund oder ungesund die einzelnen Produkte sind. Man sollte dieses Thema schon den Kindern in der Schule nahebringen, denn Essen ist ein Grundbedürfnis und es hat in jeder Kultur einen hohen Stellenwert."
Die Speisen werden seit Jahrtausenden aus den vorhandenen Nahrungsmitteln in allen Regionen der Welt verfeinert und verbessert und dienen beim gemeinsamen Genuss auch der Stärkung des sozialen Lebens.
"Wenn das Volk nur fressen kann!", spottete der Wiener Satiriker Johann Nestroy 1835 in seiner Posse "Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab": "Wie’s den Speisenduft wittern, da erwacht die Esslust, und wie die erwacht, legen sich alle andern Leidenschaften schlafen; sie haben keinen Zorn, keine Rührung, keine Wut, keinen Gram, keine Lieb’, keinen Hass, nicht einmal eine Seel’ haben’s. Nichts haben’s, nur einen Appetit." Alles schmeckt gleich
Und diese Lust wurde seither in bodenständigen Wiener Gasthäusern ebenso gestillt wie in exquisiten Restaurants der Spitzengastronomie.
Reinhard Gerer leitete von 1984 bis 2008 das Restaurant Korso im Hotel Bristol und erkochte in diesen Jahren vier Gault-Millau-Hauben und einen Michelin-Stern: "Ein guter Koch muss sein Handwerk beherrschen. Und er muss einen eigenen Stil haben. Wenn das aber dazu führt, dass ein Wirt dann seine berühmte Erbsensuppe mit Würscht’ln nicht mehr macht, und stattdessen gibt’s eine Räucherlachsvariation an Irgendwas, dann wird mir schwindlig. Und das ist mittlerweile leider in vielen Lokalen der Fall."
Qualitätsbewusste Genießer werden heute sehr oft enttäuscht. Der ausgezeichnete Koch Walter Eselböck, der mit seiner Frau Eveline in Schützen im Burgenland das Gourmetrestaurant Taubenkobel mit vier Gault-Millau-Hauben und zwei Michelin-Sternen als Feinschmeckeradresse etablierte, war in einem fremden Gasthaus essen: "Es war fürchterlich. Optisch ganz schön, aber völlig ohne Geschmack. Wie Plastik. Das kommt alles von den internationalen Logistikgruppen, die schlechte Ware global vertreiben. Überall auf der Welt sehen jetzt die Lebensmittel gleich aus, schmecken gleich und sind ohne Identität und Geschmack." Große Defizite
Auch die traditionsbewusste Köchin Andrea Karrer, die die Wiener Küchenklassiker bevorzugt, sieht auf den Speisekarten derzeit oft riesengroße Defizite. "Wo sind die reichhaltigen Suppeneinlagen und die bewährten Schmorgerichte? Wo sind die Mehlspeisen und Aufläufe - wie zum Beispiel der Schönbrunner Reisauflauf? Selbst das Wiener Schnitzel kommt oft nicht so daher, wie es eigentlich sein sollte."
Ganz besonders stört es sie, dass bei den Menüplänen "unsere Jahreszeiten so gut wie nie berücksichtigt werden und dass die Köchinnen und Köche offenbar nicht mit Kraut und Kohl" umzugehen wissen. Tatsache ist: Vielfach wird in den Küchen nicht mehr gekocht, sondern nur billige industriell gefertigte Ware warm gemacht und serviert. Und das hat rein gar nichts mit Corona oder dem Krieg in der Ukraine zu tun. Dieser Trend zeichnet sich schon länger ab.
"Es gibt in Österreich leider immer weniger Lokale, in denen hervorragend, ehrlich und auf hohem Niveau gearbeitet wird", kritisiert Karrer. Sie weiß aber auch, dass gerade die Wiener Küche sehr viel teure Zeit und Energie verbraucht und dass die Lohnkosten inklusive aller Abgaben so hoch sind, dass sich ein Restaurant nur mit geschmalzenen Preisen rechnet, die aber die wenigsten Gäste zu zahlen bereit sind.
Sie ist nicht nur eine gefragte Buchautorin und Gastro-Journalistin mit wöchentlicher Kochsendung in Radio Niederösterreich, sondern auch eine engagierte Kämpferin für mehr Bewusstsein in der Küche.
"Ich brauche keine Paradeiser oder Paprika im Winter. Das ist eine Perversion, die in den spanischen Glashäusern für viel Energieverbrauch und in der Folge für lange LKW-Transportwege sorgt - und vor allem: nicht gut schmeckt", sagt Karrer.
Sie ist bei ihren Eltern in der Wiener Neustiftgasse im Gasthaus zu den 3 Brüdern aufgewachsen, in dem ihre Mama Mathilde bodenständig gekocht hat. "Das ganze Leben hat sich im Wirtshaus abgespielt. Wenn ich nach dem Unterricht aus der Schule gekommen bin, habe ich mich zu meinem Papa hinter die Schank gestellt und ihm geholfen oder in der Küche meiner Mama dabei zugeschaut, wie sie aus nichts etwas macht, das den Gästen schmeckt."
Nachdem ihr Vater Josef in Pension gegangen war, hat sie das Gasthaus mit der Mama weitergeführt und als 42-Jährige gemeinsam mit blutjungen Lehrlingen die offizielle Kochprüfung bei Franz Zodl abgelegt, dem legendären Lehrer aller Spitzenköche in Österreich und zugleich Direktor der Gastgewerblichen Fachschule.
Das familiär geführte Gasthaus "ist sich dann aber nach der Pensionierung der Mama nicht mehr ausgegangen". Mehr Freude als das tägliche Kochen macht ihr mittlerweile das Schreiben über internationale Entwicklungen in den Küchen und die Vermittlung von aktuellem Feinschmecker-Wissen im Radio.
"Viele Menschen haben das Kochen verlernt", vermutet Karrer. Um dieser Malaise entgegenzuwirken, leistet sie jetzt demokratische Basisarbeit und bringt im Mai im Kral-Verlag ein gewichtiges Kochbuch mit 700 Rezepten und hilfreichen Tipps heraus: "Karrers köstliche Küche".
"Der wahre Genuss", philosophiert sie, "ist das bewusste Auskosten einer Mäßigung, die man sich selbst auferlegt." Ihr neues Werk bietet dafür reichlich Gelegenheit, denn es empfiehlt Kaltes und Warmes, Vorspeisen und Suppen, Hauptspeisen und Mehlspeisen, Hausmannskost und Raffiniertes. Ihr Kochbuch sieht sie aber auch als politische Publikation, weil jeder Einkauf eine politische Handlung ist, die sowohl zu einer Verbesserung als auch zu einer Verschlechterung der Welt führen kann. Das Buch soll an die Wurzeln der Kochkunst heranführen. Denn die sind vernünftig und gesund, wenn man’s richtig macht.
Übrigens ist die Wiener Küche die einzige Küche auf der ganzen Welt, die nach einer Stadt benannt ist. Sie hat eine sehr lange Tradition, und einige Spezialitäten - wie zum Beispiel den Gugelhupf oder die Palatschinken - gab es schon in der Antike. So richtig Gestalt angenommen hat unsere Form der Esskultur aber erst mit den Einflüssen aus Italien, Frankreich und den Kronländern der Habsburger. Seither haben sich unser aller Lebensgewohnheiten radikal verändert.
"Vor 50 Jahren erzeugte man sein Essen im eigenen Haus", erzählt Walter Eselböck. "Lebte man am Land, gab es einen kleinen Gemüsegarten, ein paar Hühner, vielleicht sogar zwei Schweine. Dann kam der Supermarkt, der für Reichtum stand. Man wollte den anderen zeigen, dass man sein Essen nicht mehr selbst herstellen muss, sondern einfach ins Geschäft geht und kauft, was man braucht. Der Supermarkt hat uns dem Essen entfremdet."
Zu süß, zu salzig, zu viele fragwürdige Inhaltsstoffe und auffällige Nebenwirkungen: Die radikale Industrialisierung von Lebensmitteln führt dazu, dass unser Essen zur Körperverletzung wird und krank macht. Für Gastronomen, denen es nicht nur um Profitmaximierung geht, wird es immer schwieriger, aus diesem Irrsinn auszubrechen und eigenständige Wege zu gehen.
Das Gasthaus Grünauer in der Hermanngasse ist seit 1957 ein Familienbetrieb, der sich seit den 1980er Jahren zu einem angesagten Speiselokal entwickelt hat, das mit zwei Gault-Millau-Hauben und anderen Gourmet-Auszeichnungen ausgestattet ist. Die Bodenhaftung ist trotz des Erfolgs nicht verloren gegangen.
Alte Kochbücher#
"Wir haben die klassischen Wiener Gerichte ohne Chichi im Repertoire", sagt Katja Grünauer, die seit 2013 für die Küche und das kulinarische Angebot des Hauses verantwortlich ist. Das verlangt viel strategische Planung und körperlichen Einsatz. Das Fleisch kommt von Bauern im Burgenland und im Waldviertel. Im Sommer legt sie Obst und Gemüse selbst ein, um im Winter beispielsweise Zwetschkenröster oder Rotkrautsalat anbieten zu können.
"Oft lasse ich mich von 200 Jahre alten Kochbüchern und den Angeboten auf den Märkten inspirieren. Ich gehe jeden Tag einkaufen - und das finden unsere Gäste dann auf der Speisekarte, zum Beispiel Rindsfledermaus, Schweinsbackerln, Gulasch, Beuschel, Krenfleisch, Saumaise, Szegediner Krautfleisch oder auch Innereien mit den passenden Beilagen. Leider wird das Einkaufen immer schwieriger, weil so viele Landwirte aufgeben und ihre Höfe schließen. Der Verwaltungsaufwand ist zu hoch."
Auch im Gasthaus feiert die Bürokratie fröhliche Urständ’. Per Gesetz sind Wirte neuerdings dazu verpflichtet, mit täglichen Protokollen zu dokumentieren, wann das Personal da war, mit welchen Putzmitteln Küche und WC um welche Uhrzeiten gereinigt wurden, ob im Lokal Ameisen gesichtet wurden oder wie kalt der Fisch im Eiskasten und wie heiß das Öl in der Fritteuse war.
"Es ist ein Wahnsinn und daher kein Wunder, dass so viele Gasthäuser zusperren", sagt Katja Grünauer. "Eigentlich bräuchte ich für diesen Verwaltungsaufwand eine eigene Sekretärin, die ich mir aber nicht leisten kann, also sitze ich manchmal noch nach der Sperrstunde bis drei Uhr in der Früh im Lokal und schreibe die Tagesberichte."
Dennoch hat sie bis jetzt die Lust, eine Wiener Wirtin zu sein, noch nicht verloren. Die schönste Bestätigung für ihre Arbeit ist es, wenn die Gäste das Essen loben und zu ihr sagen: "Genauso hat es früher bei meiner Oma geschmeckt!"
Die schönen Erinnerungen an die Kindheit sollte man sich eben auch auf der Zunge zergehen lassen können.
"Meine Mutter hat sehr gut kochen können", erzählt Reinhard Gerer. "Wir haben einen Gemüsegarten gehabt, und ihre Gemüsesuppe war eine Sensation. Aber so richtig eingraben können hätte ich mich ins Ritschert, das ist ein steirischer Bohnengemüseeintopf mit g’selchten Ripperln. Mit Liebstöckl und Majoran. Herrlich. Wie auch das Beuschel, wie es in der Steiermark gemacht wurde. Immer wenn ich mit den Eltern mit dem Autobus nach Knittelfeld gefahren bin, sind wir in ein Wirtshaus gegangen, dort hat’s ein Beuschel gegeben, mit einer frischen Semmel, das war sensationell. Ich glaube, dass es für einen Koch wichtig ist, dass er sich Eindrücke, Gerüche, Geschmäcker merken kann und versucht, all das neu auftreten zu lassen. Ich habe mein Rieslings-Kalbsbeuschel kreiert, und das Schöne ist, dass sich ganz Österreich daran orientiert hat."
Robert Heidinger war 20 Jahre alt, als sein Vater, ein niederösterreichischer Weinbauer, ein altes Wirtshaus im 15. Bezirk beim Meiselmarkt gekauft und zu ihm gesagt hat: "Das machst jetzt du, da kann ich meine Weine verkaufen." Robert hatte keine einschlägige Ausbildung und war zunächst überfordert: "Ich war nicht mehr als ein angelernter Schankbursch!" Das hat sich mittlerweile durch learning by doing gründlich geändert. Fast täglich steht er seit fast 40 Jahren in der Küche und bereitet die Hausmannskost des Tages zu, die von seiner Frau Susi serviert wird.
Die Gäste und Gastrokritiker sind beeindruckt, was Heidinger’s Gasthaus in der Selzergasse als Gourmet-Auszeichnung eine Falstaff-Gabel eingebracht hat. "Es ist schwierig", sagt der Wirt. "Alles ist teurer geworden. Nicht nur Strom und Gas. Die Einkaufspreise sind ein Wahnsinn. Vor einem Jahr habe ich für die 20-Liter-Dose Speiseöl noch 50 Euro bezahlt, heute kostet sie 110 Euro."
Die Wiener Küche sieht auch er in einer Krise: "Die jungen Leute lernen die Klassiker zu Hause nicht kennen, weil sie dort nicht mehr gekocht werden. Daher wissen sie nicht, wie gut das alles schmeckt. Wenn ich früher ein Rahmherz mit Semmelknödel, eine geselchte Rindszunge mit Erbsenpüree oder Hirn und Nierndln auf der Karte hatte, wurde mir das fast aus der Hand gerissen, und zu Mittag war ich ausverkauft. Heute ist das nicht mehr sehr gefragt. Viele Traditionen sind leider verloren gegangen."
Heidinger ist aber davon überzeugt, dass die letzte Stunde der Wiener Küche noch nicht geschlagen hat. Die kulinarischen Einflüsse aus verschiedenen Kulturen werden unsere Küchenklassiker neu beleben: "So hat ja auch alles angefangen!"
Abschließend gibt Hanno Pöschl zu bedenken: "Bei leidenschaftlichen Diskussionen über Essen und Trinken sollten wir nicht vergessen, dass in den armen Ländern der Welt fast 800 Millionen Menschen hungern und in den reichen Ländern gleichzeitig mehr als 900 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr im Mistkübel landen."
Georg Biron, geboren 1958, lebt als Schriftsteller, Reporter, Regisseur und Schauspieler in Wien. Zuletzt ist von ihm im Wieser Verlag der autobiografische Roman "Eisenschädel" erschienen.