Lebende tierische Drogen aus der Anstaltsapotheke #
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Aus der Zeitschrift "Klinoptikum" Ausgabe 1/2011
Drogen, aus Tieren gewonnen und zu Medizinen verarbeitet, haben eine lange Tradition bei der Herstellung von Arzneien. Meist waren dies Produkte, die man aus geschlachteten Tieren gewonnen hatte, wie beispielsweise Fette, Gallen, Mägen usw. Es wurden aber auch Produkte verwendet, wo das Tier zu deren Gewinnung nicht getötet werden musste z. B. bei der Verwendung von Milch, Wachs oder Honig. Bei der gegenständlichen Arbeit wird jedoch von Tieren berichtet, die noch heute im lebenden Zustand auf der Klinik zum Einsatz kommen. Der Bezug im Rahmen dieser Arbeit ist ein rein Kulturgeschichtlicher und hat keine Relevanz zu ihrem medizinischen Einsatz.
Die wahrscheinlich auffälligste Droge, die von der Anstaltsapotheke an Stationen im Klinikum geliefert wird, ist der „Medizinische Blutegel“ (Hirudo medicinalis). Blutegel gehören zu den so genannten „Ringelwürmern“. Es gibt solche die zu Land (Landegel) und solche die zu Wasser vorkommen. Typisch für den Egel sind zwei Haftscheiben, die an beiden Körperenden vorkommen. Der Blutegel ist ein Zwitterwesen, er benötigt aber zur Fortpflanzung einen Geschlechtspartner und Blut (Abb. 1, 2).
Bereits in vorchristlicher Zeit scheinen Blutegel in medizinischer Verwendung auf und zwar schon im 2. vorchristlichen Jahrhundert in einem Lehrgedicht des Nikandros.1 Trotz dieser langen Tradition waren Blutegel noch im 18. Jahrhundert nicht apothekenüblich. Erst seit dem beginnenden 19. Jahrhundert scheinen sie auch in den einzelnen Arzneibüchern auf. Dessen ungeachtet wurden Blutegel vor dieser Zeit häufig zum Blutentziehen von Chirurgen, Badern, Hebammen und ähnlichen Berufen verwendet – diese beschafften sich die Blutegel einfach selbst.2
Bei den Blutegeln – auf Latein mit „Hirudines“ bezeichnet – unterschieden die Arzneibücher den „Deutschen Blutegel“ (Hirudo medicinalis) und den „Ungarischen“ (Hirudo verbana, H. officinalis). Das Zentrum des Handels mit „deutschem Blutegel“ war früher vor allem in der Umgebung von Hamburg, so dass sich in Hamburg eine regelrechte „Blutegelbörse“ entwickelt hatte und die Stadt selbst dafür zum internationalen Handelsplatz wurde.3 Es waren vor allem Leute aus dem Nahbereich von Hamburg (aus den Vierlanden), die auf „Blutegelfang“ bis tief hinein nach Russland, ja sogar bis zum Ural, vordrangen. Zwischen 1840 und 1850 sollen – so schätzt man – jährlich 200.000 bis 500.000 Blutegel von Russland eingeführt worden sein. Zum Transport verwendete man kleine Holzfässchen, die mit feuchter Erde oder Torf gefüllt waren.4
Auch „Ungarische Blutegel“ erfreuten sich eines besonders guten Rufes, vor allem in Frankreich.5 Im Jahre 1833 soll die ungeheure Anzahl von 41 Millionen Egeln von Ungarn nach Paris gebracht worden sein. Sehr geschätzt waren aber auch die „Schwedischen“, und hier vor allem die „Gotländischen Egel“. In den USA waren in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts „Schwedische Blutegel“ ein ausgesprochener Exportschlager, so sehr, dass man schwedischen Auswanderern riet, diese dorthin mitzunehmen, denn alle anderen Blutegel wären träge.
Allgemein glaubte man, dass mit dem von den Egeln angesaugtem Blut auch alle anderen Unreinheiten im Blut aus dem Körper entfernt werden würden. So war es nicht verwunderlich, dass oft eine große Anzahl von Blutegel gesetzt wurde. Aus Dalmatien weiß man, dass 50 Stück angesetzte Blutegel durchaus keine Seltenheit waren.6 Besonders aber im alten Persien, dem heutigen Iran, war das Blutegelsetzen äußerst beliebt. Wann immer einem Perser danach war, suchte er sich einen schmerzenden Punkt am Körper, um dort Egel ansetzen zu lassen. Das konnte auch die Nasenspitze oder das Ohrläppchen sein. Blutegel-Verkäufer wanderten damals, laut ihre Ware ausrufend, durch das alte Teheran. Man rief sie zu sich und diese setzten die gewünschten Blutegel gleich selbst an, wobei es auf 5 bis 10 Stück mehr nicht ankam. Ihr Preis war ja äußerst gering.7
Blutegel waren aber auch in der Steiermark sehr beliebt. Dem „Egelsetzen“ brachte man gewöhnlich höchstes Vertrauen entgegen. Hatte ein Arzt aus eigenem Antrieb diese angeordnet, stieg dadurch meist sein Ansehen. Besonders wirkungsvoll wären dabei 12 Blutegel oder ein Vielfaches davon gewesen. 8 Das entsprach der alten Zahlenmagie.
Zum Ansetzen des Egels ging man so vor: man umwickelte ihn entweder mit einem Leinenstreifen oder versuchte, ihn in ein Röhrchen aus Glas – es gab eigene, etwas gebogene Blutegelröhrchen oder ebensolche aus Metall – zu bekommen. Eine andere Methode war, einen sauren Apfel auszuhöhlen, dort einen Blutegel hinein zu geben und so den Egel anzusetzen. Wollte der Egel nicht beißen, rieb man die Stelle mit Zucker ein. Wollte man dagegen, dass der Egel losließ, bestreute man die Stelle mit Salz oder Asche.9 (Abb. 3).
Zur Aufbewahrung in den Apotheken dienten früher schmucklose, keramische Gefäße mit der Aufschrift „Hirudines“, die zur Belüftung am oberen Rand und im Deckel mit Luftlöchern versehen waren; bisweilen deckte man die Gefäße nur mit Mull ab, um dem Wasser die nötige Luftzufuhr zu erhalten. Siebartige Einsätze ermöglichten die Reinigung der Töpfe.
Der Blutegel sondert über den Speichel etwa 20 verschiedene Substanzen in die Wunde ab, darunter den Blutgerinnungshemmer Hirudin. Durch das Hirudin, das als Thrombin-Inaktivator wirkt, blutet die Wunde nach dem Blutegelbiss nach. Das Thrombus-Wachstum wird unterdrückt, die Bildung neuer Thromben wird verhindert. Derzeit kommen in Deutschland jährlich 300.000 Blutegel zum Einsatz. Sofern diese auf einer Klinik eingesetzt werden, kommen sie vor allem in den Bereichen Unfall- bzw. plastischer Chirurgie zur Anwendung.10
Ein weiteres Produkt, welches die Anstaltsapotheke ausliefert, sind Fliegenlarven. Anders aber als die Egel, die zu je fünf Stück vorabgepackt in einem braunen Weithalsgefäßen zum Abholen in der Apotheke bereitstehen, handelt es sich bei der zweiten tierischen Arznei um einen biochirurgischen Wundverband, der in einem „BioBag“ eine bestimmte Anzahl von aseptisch gezüchteten Larven der Goldfliege (Lucilia sericata) im 2. Larvenstadium enthält. Diese lebenden Fliegenlarven kommen bei chronischen Wunden, wo oft nur mehr eine außergewöhnliche Form der Wundtherapie hilft, zum Einsatz. Dabei wird der BioBag entweder direkt auf die Wunde gelegt oder man setzt die Larven frei in die Wunde ein. Im zweiten Fall werden aber die Wundränder mit doppelseitig klebenden Gelstreifen geschützt und ein Netz als Abdeckung verhindert ein „Flüchten“ der Larven. Durch den Einsatz von Larven erwartet man sich eine Reinigung der Wunde, die Vernichtung von Keimen und dadurch eine Förderung der Wundheilung.11 (Abb. 4, 5).
Bei der Gewinnung der Larven wird folgendermaßen vorgegangen: eine Fliege legt etwa 15 Mal bis zu 200 Eier. Dieser werden in Sterillabors desinfiziert. Die Eier werden dann auf Nährböden aufgebracht. Über Nacht schlüpfen die Larven aus den Eiern. Die Larven werden von den Platten genommen und in die Wundauflage gefüllt, die dann für den Versand vorbereitet werden.12
Fliegenlarven zur Reinigung von Wunden wurden bei Naturvölkern, so bei den Aborigines Australiens, bei den Mayas Mittelamerikas oder bei Völkern im nördlichen Burma (Myanmar) verwendet. In der westlichen Welt waren es vor allem Militärärzte, die als erste die positive Wirkung von Fliegenmaden bei Verwundungen beobachten. Einer der ersten war Amboise Paré (um 1510– 1590), der dies nach der Schlacht von St. Quentin (1557) beobachten konnte. Die heilungsfördernde Wirkung der Fliegenlarven beobachtete später auch der Anatom D. Hieronymus Fabricius (1537-1619). Im Rahmen der französischen Ägypten-Expedition in Syrien, war es dann der berühmte französische Feldchirurg und spätere Leibarzt Napoleons Dominique Jean Larrey (1766- 1842), dem auffiel, dass die so genannten „blauen Fliegen“ (blaue Schmeißfliege, Gattung Calliphora) nur totes Gewebe vertilgen würden. Dadurch entwickelte sich ein positiver Effekt auf die Heilung des gesunden Gewebes.13
Dokumentierte Berichte gab es dann von Ärzten im Amerikanischen Bürgerkrieg, so von Joseph Jones und John Forney Zacharias, beides Ärzte bei den Konföderierten und von W. W. Keen, einem Chirurgen der Nordstaatenarmee. Die Chirurgen der Union setzten trotzdem Maden selten ein, anders die Ärzte der Südstaatenarmee, denen oft keine andere Wahl mehr blieb, da ihnen kein Verbandsmaterial mehr zur Verfügung stand.
Im Ersten Weltkrieg war es dann der in Frankreich stationierte amerikanische Arzt William Baer, der bemerkte, dass von Maden befallene Wunden von Soldaten erstaunlicherweise sauber und frei von Entzündungszeichen waren. Nach Kriegsende setzte er, nun bereits Professor an der John Hopkins Universität in Baltimore (Maryland), erfolgreich Fliegenmaden bei Knochenentzündungen ein. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Madentherapie dort in mehr als 300 Kliniken eingesetzt. Mit der Einführung von Penicillin (1944) verloren die Maden an Bedeutung. Die Entdeckung der Antibiotika war zwar ein großer medizinischer Fortschritt, doch wurden damit Infektionen, auch Wundinfektionen keineswegs ausgemerzt. Dazu kam die zunehmende Resistenz vieler Erreger gegen moderne Antibiotika. Folgerichtig führte das in den frühen 1980er Jahren zu einer Renaissance der Fliegenmaden.14, 15
2 Ebda.
3 Vgl. Pharmazeutische Zeitung, Eschborn 1978, 123. Jg., Nr. 31, S. 1338.
4 Ebda.
5 Vgl. Apothekenkalender 1992, Stuttgart, Blatt 8 (August).
6 Vgl. Oskar v. Hovorka, Adolf Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin, Erster Band, Stuttgart 1908, S. 88
7 Ebda.
8 Vgl. Victor Fossel, Volksmedicin und medicinischer Aberglaube in Steiermark, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1886, Walluf bei Wiesbaden 1974, S. 144
9 Vgl. Apothekenkalender 1992, Blatt 8 (August)
10 Vgl. Bettina Sauer, Therapeuten mit Biss. Aus: Pharmazeutische Zeitung online; Pharmazeutische Zeitung, Ausgabe Nr. 38, Eschborn 2008.
11 Vgl. Stefanie Hamann, Birke Thöner, Wundbehandlung mit Fliegenlarven – Biochirurgie-. Häufig gestellte Fragen. Eine Informationsbroschüre für Patienten (= Hamann, Thöner, Fliegenlarven), Lünen (D), o. J., S. 5
12 Ebda
13 Vgl. Hamann, Thöner, Fliegenlarven – Martin Grassberger, Monika Heinrich, Die Maggot therapy. Lucilia sericata: Maden helfen Wunden Heilen. In: ÖAZ (Österreichische Apotheker-Zeitung), Wien 1999, 53. Jg., Nr. 16, S. 733-736.
14 Wie Anm. Nr. 13, S. 2
15 Vgl. Uwe Wollina, Biochirurgie/Madentherapie – eine wirksame Methode zur Wundbettkonditionierung chronischer Wunden. In: Sonderdruck Medizin & Praxis spezial, Vogelsang/Stade 2008, S. 60
Autor:
Mag. pharm. Dr. Bernd Mader