Der Tempel der Göttin Minakshi, Shivas Gemahlin in der für Hindus wichtigsten Pilgerstätte Südindiens in Madurai#
Riesige und verwirrende Götterwelten und eine sehr menschliche Zeremonie#
Von
Günther Jontes, 2016
Die Fotos wurden vom Verfasser aufgenommen und sind im Archiv „Bilderflut Jontes“ verankert.
Es ist eher selten, dass Göttinnen, deren Legende sich nur an einen einzigen bestimmten Ort bindet, einen eigenen großen Tempelbezirk haben. Dies ist in der südindischen, im Bundesstaate Tamil Nadu gelegenen Stadt Madurai Indien, Madurai der Fall. Im hinduistischen Pantheon wird die Göttin Minakshi für die Schwester des Hochgottes Vishnu gehalten, wird hier im Beisein aller Götter mit dem mächtigen Shiva verheiratet und deshalb für eine Erscheinungsform von dessen Hauptgemahlin Parvati gehalten
Von ihm empfängt sie auch den Kriegsgott Karttikeya, der auch unter den Namen Subhramanya oder Kumara auftritt. Die Tamilen nennen ihn Murugan. Er wird fast nur von den südindischen Hindus verehrt.
Man erkennt die Göttin in den bildlichen Darstellungen an ihrer grünen Hautfarbe und an ihrem Attribut Papagei auf einem Blumenstrauß
Der Name Minakshi mutet uns seltsam an, denn er bedeutet aus dem Sanskrit übersetzt „die Fischäugige“. Damit soll aber ein altindisches Schönheitsideal zum Ausdruck gebracht werden, denn mandelförmige, wie Fische länglich geformte Augen galten als besonders anziehend. Sie ist also nicht die „starr wie ein Fisch Dreinblickende“, sondern eine Frau mit besonders schönem und ansprechendem Antlitz. Aber immerhin ist sie auch Schutzgöttin der Fischer und das deutet darauf hin, dass sie in der Zeit, als der bereits entwickelte Hinduismus aus dem Norden Indiens auch den Süden erreichte, aus einem lokal bezogenem Untergrund aufstieg und zu einer weiteren Gemahlin Shivas uminterpretiert wurde. Dieser wird im Zusammenhang mit Minakshi immer als Sundareshvara „der schöne Herr“ bezeichnet.
In den Mythen wird Shiva auch Nataraja „König des Tanzes“ genannt. In einem Flammenkreis tanzt er als Asket den kosmischen Tandava-Tanz, mit dem die daraus entstehende Energie die Sterne kreisen und die Sonne nicht mehr erlöschen lässt. Er trampelt mit seine Füßen den Dämon Apasmara nieder, der Dummheit und Ignoranz verkörpert. Shiva ist vierarmig und weist mit der einen Hand den Gestus der Schutzgewährung (abhayamudra). Mit der anderen hält er die Sanduhrtrommel (damaru) eines Asketen. Diese Art der Darstellung entstand um das Jahr 1000 n. Chr. in Südindien und kann in herrlichen Beispielen der Bronzegießkunst auch im Minakshitempel zu Madurai bewundert werden.
Der mit Minakshis Namen verbundene und ihr geweihte Tempel ist das prächtigste Beispiel drawidischer Baukunst. Der gesamte Tempelbezirk umfasst eine Fläche von etwa 6 Hektar. Eine eigene Subkaste von Brahmanen versieht hier als Priesterschaft den liturgischen Dienst bei den zahlreichen rituellen Handlungen und wird von einer anderen Subkaste von Tempeldienern dabei unterstützt. Priester gibt es stets an die sechzig, Diener etwa zwanzig. Sie sind weiß gekleidet und tragen auch die ihnen als Angehörigen der höchsten Kaste zustehende Opferschnur (yagnyopavita).
Man betritt den Tempel durch einen der zwölf Tortürme (gopuram“Kuhstadt“), deren höchster und prächtigster, der mit hunderten lebensgroßen und buntbemalten Skulpturen überzogene Ost-Gopuram ist. Die ältesten Teile des Tempels stammen aus dem 13. Jahrhundert. Die heutige Gestalt erlangte er unter den Königen der Vijayanagar-Dynastie, die hier einen Statthalter (nayak) eingesetzt hatten. Dessen prächiger Palast ein weitere Sehenswürdigkeit von Madurai ist.
Der Ost-Gopuram, der höchste von allen. Er darf heute nicht mehr bestiegen werden, da sich immer wieder Selbstmörder von ihm in die Tiefe gestürzt hatten
Wenn nach Jahrzehnten die Regengüsse der Monsunzeit die grellbunten Farben verbleichen hatten lassen, werden diese wieder erneuert und der Gopuram erstrahlt in neuem Glanz
Für Minakshi und Shiva gibt es je einen Schrein mit dem Götterbild, die goldbekrönt aus dem Gewirr der langen Gänge und Hallen, darunter eine mit „tausend“ Pfeilern, hervorragen. Der Tempel darf in weiten Teilen von jedermann betreten werden. Die innersten Bereiche und die Schreine sind jedoch sakrosankt und nur Hindus haben das Recht, sie aufzusuchen.
Indiens Götter werden wie die der klassischen Antike in Europa sehr menschlich gesehen. Sie haben die selben Bedürfnisse wie die Menschen und man verehrt ihnen Opfergaben, die sich virtuell schmecken lassen. Sie werden gebadet, man erfreut ihren Geruchsinn mit Räucherwerk. Tagsüber wird Minakshi und ihrem Gemahl Shiva/Sundareshvara in ihren goldgekrönten Schreinen hofiert. Wenn es aber Nacht wird, bietet man ihnen auch die Freuden des Ehelebens. Und so wird Minakshis Kultbild, vor profanen Blicken abgeschirmt, in einer prunkvollen Sänfte von Brahmanen-Priestern und Tempeldienern aus ihrem Schrein abgeholt und in jenen ihres Gatten gebracht, wo sie nun gemeinsam bis zum nächsten Morgen die Nacht verbringen.
Die Sänfte wird auf ein kunstvoll mit Kreide auf den Boden gemaltes Mandala gestellt. Mit einem großen Fächer wird der verborgenen Göttin Luft zugefächelt. Der Vorhang, der die Gottheit verbirgt, zeigt hier die anikonische Gestalt Shivas, nämlich seinen stilisierten Phallus (lingam)
Brahmanen begleiten die Prozession und die damit verbundenen Kulthandlungen. Die Aschenlinien auf der Stirn kennzeichnen sie als Anhänger Shivas