Horst Wessel - aus Eifersucht umgelegt#
Vor achtzig Jahren fiel der Nationalsozialist Horst Wessel einem Attentat zum Opfer – aber der Täter, "Ali" Höhler, taugte nicht zum Helden des antifaschistischen Kampfes.#
Mit freundlicher Genehmigung der Wiener Zeitung, vom Samstag, 09. Jänner 2010
Von
Thomas Karny
Am Abend des 14. Jänner 1930 wurde auf den 22-jährigen SA-Mann Horst Ludwig Georg Erich Wessel in seiner Wohnung in der Großen Frankfurter Straße 62 in Berlin ein Schussattentat verübt. Fünf Wochen später, am 23. Februar 1930, starb Wessel an den Folgen einer Blutvergiftung. Abgegeben hatte den Schuss der aus Mainz gebürtige Albrecht "Ali" Höhler, 32 Jahre alt, gelernter Tischler und Mitglied der illegalen kommunistischen Sturmabteilung in Berlin-Mitte.
Unmittelbarer Anlass für die Tat war eine Mietstreitigkeit zwischen Wessel und seiner 24-jährigen Freundin Erna Jaenichen, einer ehemaligen Prostituierten, einerseits sowie der Zimmerwirtin Elisabeth Salm andererseits. Als diese die Gesinnungsgenossen ihres einige Monate zuvor verstorbenen Mannes um Unterstützung bei der Schlichtung des Streits bat, war der Entschluss, Wessel eine "proletarische Abreibung" zu verpassen, schnell gefasst.
Trotz seiner relativen Jugend war der "Nazi-Häuptling" weit über den Alexanderplatz hinaus bekannt und bei den Roten verhasst. Der Pastorensohn aus Bielefeld hatte im proletarischen Friedrichshain viele Kommunisten "umgedreht", die Mitgliederzahl seines Trupps binnen eines Dreivierteljahres von 30 auf über 250 Mann gesteigert und den Friedrichshainer SA-Verband zu einer so schlagkräftigen wie brutalen Formation aufgebaut. Das lokale Feindbild der Roten gewann an jenem 14. Jänner 1930 zusätzlich an Schärfe, als am Nachmittag desselben Tages der 17-jährige Kommunist Camillo Roß von SA-Männern durch Revolverschüsse schwer verletzt worden war. Es gab Gerüchte, wonach Wessel unter den Angreifern gewesen sein soll.
Gegen halb zehn Uhr abends lotste Elisabeth Salm die Attentäter in die Große Frankfurter Straße 62. Als es an seiner Wohnungstür läutete, ging Wessel ahnungslos zur Tür. Er erwartete tatsächlich Besuch, nämlich von Richard Fiedler, dem Führer des Berliner SA-Sturms 1. Kaum hatte Wessel die Tür geöffnet, schoss ihm Höhler mitten ins Gesicht. Höhler drang gemeinsam mit Erwin Rückert und Josef Kandulski in das Zimmer ein. Man suchte nach Waffen, fand einen Gummiknüppel und eine Pistole und verschwand wieder in die Nacht.
In Wessels Wohnung herrschte kurz darauf hektische Betriebsamkeit – nicht nur bezüglich der ärztlichen Bemühungen für den jungen SA-Mann, der gegen 23 Uhr ins Krankenhaus Friedrichshain eingeliefert und um 0 Uhr 45 notoperiert wurde. Propagandamaterial und heimliche Aufzeichnungen über Kommunisten und die Polizei lagen zuhauf in Wessels Wohnung. Fiedler, der kurz nach dem Attentat eingetroffen war, sorgte eilig dafür, dass diese verschwanden.
Nach seinem Tod am 23. Februar 1930 wurde Horst Wessel zur wohl bekanntesten NS-Ikone. Nach 1933 sollten Straßen, Schulen und Kasernen nach ihm benannt werden. Ein Segelschulschiff trug ebenso seinen Namen wie ein Fliegergeschwader und eine Division der Waffen-SS. In Wien, wo Wessel 1928 ein paar Monate verbracht hatte, wurden 1938 eine Gasse, ein Platz (der vormalige und gegenwärtige Viktor-Adler-Platz) sowie ein Studentenheim nach ihm benannt. Das von ihm getextete Lied "Die Fahne hoch!" mutierte zur zweiten deutschen Nationalhymne.
Der verleugnete Täter#
Der Attentäter Albrecht "Ali" Höhler jedoch blieb so gut wie unbekannt. Er scheint weder in der kommunistischen Ahnengalerie des Klassenkampfs noch als Held des antifaschistischen Widerstands auf. Ganz im Gegenteil: Seitens der deutschen Kommunisten wurde das Attentat ausdrücklich nicht in einen politischen Zusammenhang gestellt.
Der am 30. April 1898 in Mainz geborene Höhler hätte ein durchaus verdienter Genosse sein können. Der gelernte Tischler war seit 1924 KPD-Mitglied, später Rotfrontkämpfer, seit 1929 Angehöriger der kommunistischen Sturmabteilung Berlin-Mitte. Politisches Kapital konnte aus ihm dennoch nicht geschlagen werden. Als vielfach vorbestrafter Krimineller und Zuhälter entsprach Höhler nicht dem Idealbild des heroischen Proletariers. Großflächige Tätowierungen auf seinem Oberkörper und den Armen stempelten ihn in den Augen seiner Zeit zum "Berufsverbrecher". Darüber hinaus soll er dem berüchtigten Ringverein "Immertreu" angehört haben. Ringvereine, die nach außenhin als Geselligkeits- oder Wohltätigkeitseinrichtungen auftraten, galten als Hort des organisierten Verbrechens. Im berüchtigten Scheunenviertel waren kommunistische Partei und Halbwelt zu einem dichten Filz verwachsen.
Höhlers ungebetene Erledigung der "Spezialaufgabe", Wessel zu erschießen, war den Genossen aber doch zu heiß. Die kommunistische "Rote Fahne" titelte tags darauf denn auch: "SA-Führer aus Eifersucht umgelegt". Damit hatte die Partei die Stoßrichtung im Groben vorgegeben. Aus ihrer Sicht lag kein politisches, sondern ein persönliches Motiv vor. Wenige Tage später wurde nach Höhler per Steckbrief gefahndet. Er war von Erna Jaenichen eindeutig als Täter identifiziert worden, die ehemalige Prostituierte hatte den Zuhälter wieder erkannt. Um die These von der Eifersuchtstat zu untermauern, behauptete die kommunistische Presse, Wessel habe Höhler seine ehemalige "Mieze" ausgespannt.
Im Karl-Liebknecht-Haus versuchte man, den nicht gerade reputierlichen Genossen los zu werden. Mit falschen Ausweispapieren und etwas Taschengeld ausgestattet, flüchtete Höhler nach Prag, wo er ein von der "Roten Hilfe" organisiertes Quartier bezog. Vor seiner Abreise hatte ihm Ottomar Geschke, damals KPD-Reichstagsabgeordneter und nach dem Krieg Vorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), eingeschärft, im Falle seiner Festnahme nur von einer Eifersuchtstat zu sprechen, andernfalls habe man "für ihn eine Kugel bereit". Doch keine zwei Wochen später war Höhler in Begleitung einer jungen Österreicherin, die er in Prag kennen gelernt hatte, wieder in Berlin und erbat von der KPD Unterstützung "für die tschechische Genossin". Für die Partei jedoch war der lästige Bittsteller zum Sicherheitsrisiko geworden. Nach einem anonymen Hinweis nahm die Polizei den Wessel-Attentäter fest.
Verbittert darüber, von den eigenen Leuten verraten worden zu sein, packte Höhler umfassend aus. Rund 15 Personen mussten sich ab dem 22. September 1930 vor dem Gericht in Berlin-Moabit verantworten. Die "Rote Hilfe" hatte prominente Anwälte aufgeboten. Höhler wurde exklusiv von Dr. Alfred Apfel, der bereits Johannes R. Becher und Max Hoelz, den "Robin Hood des Vogtlandes", vertreten hatte, verteidigt. Für die anderen Angeklagten wurden unter anderem Dr. Fritz Löwenthal, der für die KPD im Reichstag saß, und Dr. Hilde Benjamin engagiert. Die Schwägerin des Philosophen Walter Benjamin wurde später erste Justizministerin der DDR und als "rote Hilde" zur berüchtigten Symbolfigur der ostdeutschen Rechtssprechung.
Die kommunistische Presse versuchte im Vorfeld, die Verhandlungsatmosphäre günstig zu beeinflussen und berichtete in großer Aufmachung über den Prozess gegen jene Nationalsozialisten, die wenige Stunden vor dem Wessel-Attentat den jungen Camillo Roß niedergeschossen hatten. Die Verteidigung war bestrebt, für die Angeklagten politische Urteile zu erwirken. Nur an Höhler sollte das Motiv der Eifersucht hängenbleiben.
Politische Motive#
Höhler gab jedoch an, sehr wohl aus politischen Motiven gehandelt zu haben. Er dürfte diese in erster Linie aus verfahrenstaktischen Gründen geltend gemacht haben, da die gängige Rechtspraxis zeigte, dass Urteile für politische Taten milder ausfielen. Nach fünf Tagen war der Prozess beendet. "Ali" Höhler und Erwin Rückert, die beiden Haupttäter, wurden wegen gemeinschaftlich begangenen Totschlags zu je sechs Jahren und zwei Monaten Zuchthaus verurteilt. Josef Kandulski musste für fünf Jahre und einen Monat hinter Gitter. Das Ausmaß der weiteren Strafen bewegte sich zwischen zwei Jahren und vier Monaten Freiheitsentzug.
Im Vergleich zu ähnlich gelagerten Fällen waren die Urteile hart ausgefallen. In einem parallel geführten Prozess wurden drei SA-Angehörige, die zwei junge Männer im Zuge einer "Schlägerei mit politischer Tendenz" erschossen hatten, zunächst zu geringen Freiheitsstrafen verurteilt und im Revisionsverfahren freigesprochen. Für die Kommunisten war der Ausgang des Wessel-Prozesses gerade aufgrund der hohen Haftstrafen ein Erfolg, weil diese in ihren Augen die Klassenjustiz der Weimarer Republik belegten.
Die Rache der Nazis#
Die Justiz hatte ihr Urteil gefällt, doch als die Nazis drei Jahre später an die Macht kamen, schlossen sie den Fall Wessel auf ihre Weise ab. 1934 wurden in einem neuerlichen Prozess zwei Randfiguren des Attentats zum Tode verurteilt. Bereits im Frühjahr 1933 war Else Cohn, die als Auskundschafterin des Tatorts am Attentat beteiligt war und sich durch Flucht einer einjährigen Gefängnisstrafe entziehen konnte, von nie ermittelten Tätern ermordet worden. Danach griffen sich die Nationalsozialisten "Ali" Höhler. Am 20. September 1933 wurde er von einem Todeskommando, dem unter anderem Karl Ernst, der Berliner SA-Gruppenführer, und Rudolf Diels, der Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes, angehörten, erschossen.
Ebenfalls beteiligt war Richard Fiedler, der Gast, den Wessel am Abend des 14. Jänner 1930 erwartet hatte und der noch in derselben Nacht Propagandamaterial und geheime Aufzeichnungen hatte verschwinden lassen. Der nunmehrige SA-Brigadeführer und Reichstagsabgeordnete bezeichnete die Teilnahme am Mord als "Ehrensache". Fiedler, der 1945 aus britischer Kriegsgefangenschaft fliehen konnte und danach als Unternehmer in München lebte, wurde wegen des Mordes an Höhler so wenig belangt wie die anderen Beteiligten. 1969 stellte die Staatsanwaltschaft sämtliche diesbezügliche Verfahren ein. Sie begründete dies damit, dass die noch lebenden mutmaßlichen Täter nur wegen Beihilfe zum Mord belangt werden könnten – und die war verjährt.
Literatur:#
- Daniel Siemens: Horst Wessel – Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten. Siedler Verlag, München 2009, 352 Seiten. * Heinz Knobloch: Der arme Epstein – Wie der Tod zu Horst Wessel kam. Ch. Links Verlag, Berlin 1993, 224 Seiten.
Thomas Karny, geboren 1964. arbeitet als Sozialpädagoge, Autor und Journalist. Lebt in Graz