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408 november 1908
nen, daß wir genau so viel leisten und vor der Zukunft einst gelten
werden, als es uns gelingt, Vergangenheit zu vergessen und Ver-
gangenheit vergessen zu machen. Eben das aber, was wir vergessen
wollen, daran spritzen sich die Juden jetzt ein künstliches Erinnern
45 ein. Das lustigste Beispiel ist mir immer die Geschichte mit dem
Vaterunser, die ich so gern erzähle. Ein Jude sagte einmal, irgend
etwas sei ihm unvergeßlich. Und um den Grad der Unvergeßlich-
keit recht zu beteuern, sagte er: Unvergeßlich wie das Vaterunser!
Ichstutzte. IchversuchtedasVaterunseraufzusagen.Esgelangmir
50 nicht.Ichbinganzfrommerzogen,meineMutterwarfast,wasman
eineBetschwesternennt,undinSalzburg,wohinichdanninsGym-
nasiumkam,wurdenwirsehrkirchlichgehalten.Esgelangmiraber
nicht, ich fandschondendrittenSatznichtmehr.Nunwar ichneu-
gierig, ichfingmeineFreundezuprüfenan.Zunächstdie,welchein
55 katholischen Klöstern erzogen sind, in Kremsmünster oder bei den
Schotten.Sieheda,siewußtenalledasVaterunsernichtmehr.Wenn
ichaberaneinenJudenkam,derwußtees. IchhabedasExperiment
zuletztnochinBerlinanunsermTischimSavoygemacht.Daistein
Baron, den die Jesuiten in Kalksburg erzogen. Dann ist ein Elsässer
60 da, der einmal zu den großen Hoffnungen der katholischen Litera-
turgehörte.Wir drei versuchten nun,zusammendas Vaterunserzu
buchstabieren. Es gelang uns nicht. Aber da kam lachend Schalom
Asch und half uns aus, der wußte es. Ich habe jetzt wenigstens ein
Mittel,Judenzuerkennen.Ichfrageeinenbloß,oberdasVaterunser
65 weiß.
In Schnitzlers Roman ist auch manches Beispiel dafür. Er selbst,
dies spürt man überall, er will ja mit aller Kraft heraus: von der
angelogenen Vergangenheit weg und aufs Leben los, auf unser eige-
nes Leben! Jene jüdische Rührung über alles, was die Juden nicht
70 angeht,haterzueinerStille,Weiche,GütederDarstellunggezügelt,
die einen künstlerischen Reiz aus ihr macht. Freilich fühlt man ihr
bisweilen seine Neigung an, wegzutreten, beiseite zu stehen, nicht
mitzutun,wozuGerechtigkeitsovielevonunsverführt.Erhateine
Neigung,gekränktzusein,woesvielleichtnützlicherwäre,wütend
75 zuwerden(erkannmirallerdingsantworten,daßsichGefühlenicht
kommandieren lassen). Ins Freie kommt man freilich, wenn man
weggeht. Aber ist es die Freiheit von Flüchtlingen, die wir wollen?
Wird Oesterreich frei, wenn man sich von ihm frei macht? Und an
dieKraftderstillenArbeit,vonderihrimmersprecht,kannichnicht
80 mehr glauben. Still gearbeitet wird in Oesterreich seit hundert Jah-
ren;undes istnoch immerstill.
UndnochetwaskannichanSchnitzlernichtverstehen.Erstensteilt
er den Irrtum der Juden in Oesterreich, als ob ihr Fall ein besonde-
rer wäre. Das ist er nicht. Sie werden unterdrückt, gewiß. Aber es
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Buch Arthur Schnitzler & Hermann Bahr - Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931"
Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Titel
- Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
- Untertitel
- Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Herausgeber
- Kurt Ifkovits
- Martin Anton Müller
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3228-7
- Abmessungen
- 14.6 x 23.4 cm
- Seiten
- 1010
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- 1891 7
- 1892 18
- 1893 31
- 1894 64
- 1895 91
- 1896 115
- 1897 135
- 1898 160
- 1899 167
- 1900 173
- 1901 192
- 1902 222
- 1903 246
- 1904 288
- 1905 338
- 1906 371
- 1907 386
- 1908 401
- 1909 413
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- 1911 447
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- 1931 598
- 1932 604
- 1934 606
- 1936 607
- 1962 610
- Quellennachweis und Erläuterungen 632
- Buchausgaben im gegenseitigen Besitz 787
- Theaterbesuche 792
- Auszüge aus Schnitzlers Tagebuch 793
- Editorische Richtlinien 796
- Die Korrespondenz Bahr –Schnitzler 813
- Nachwort 820
- Dank 864
- Verzeichnis der Dokumente 866
- Korrespondenzpartner 902
- Register 916