Seite - 616 - in Arthur Schnitzler & Hermann Bahr - Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
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tur‹undsoweiterkommtmirunsagbardummvor.Herzlichstgrüßt
Dich DeinalterHermannBahr.«
Schnitzler dankt ihm mit Wärme: »... laß mich bei dieser Gelegen-
heit auch einmal sagen, wie sehr es mich freut, daß wir Beide über
265 die zeitweiligen Entfremdungen hinaus sind, die ja wahrscheinlich
bei manchen Naturen, wie den unsern, entwicklungsphysiologisch
bedingt und daher notwendig sind. (Du siehst, ich bin immer ›wis-
senschaftlich.‹)NunistdasAlterderMißverständnissewohlendgül-
tig fürunsvorbeiundwirsindsoweit,daßwireinander–vielleicht
270 auch ein bischen um unserer Fehler willen – Freunde sein und blei-
bendürfen.«
Zehn Jahr mußten vergehen, ehe dieser Ton gegenseitigen Einver-
ständnisses zwischen den beiden aufklingen konnte, die Zeit von
dreißig bis vierzig, Mannesjahre voll rätselhaft-geheimer Formung
275 des eigenen Ich bis zu dem entscheidenden Schritt in die Gestal-
tung der Umwelt. So verschieden ihre Naturen auf diese Umwelt
reagieren mußten – eins war gemeinsam in ihnen: ihre kritische
Liebe zu Wien. Nicht umsonst ist Wien die Stadt der Musik –
einer bestimmten Art des Musizierens. Wo es sich triebhaft auflö-
280 sen kann, dem sinnlich-schönen Klang schwelgerisch hingegeben,
fortgeschwemmt und bewußtlos gemacht in einer fast weiblichen
Gebärde – da ist Wien empfängilich und dankbar wie keine zweite
Stadt der Welt. Reiz für den flüchtigen Augenblick, Opiat gegen
die matte Wirklichkeit, Zerstreuung an Stelle der Sammlung – so
285 will Musik, so will alle Kunst hier verstanden sein. Was ihr in die-
serStadtverwehrt ist: ihrewahreSendung–formendesElementzu
sein, umbildender Griff in seelisch-geistiges Gebiet. Weiter als ins
BereichderEmotionendarf sienichtdringen–hierschlagenTüren
zu.
290 Nur in einer mittleren Sphäre will diese Stadt genießen und leben
– und darin ist sie meisterhaft ausbalanciert. Was darüber hinaus-
weist, ins Göttliche oder Dämonische reicht, erschreckt sie bis ins
Mark.Was ist es,das sie fürchtet?Nichtaufwachen,nicht innewer-
den,nichtklarsein!DasHebbel-Wort:»OhrührnichtandenSchlaf
295 derWelt«– nur inWienkonnteesaufkeimen.
Mit müden Augen, die viel Wechselvolles gesehen haben, schaut
diese Stadt den Lauf der Zeiten – ihr ist nichts so gut und nichts
soschlimm,alsdaßesnichtmitGleichmutertragenwerdenkönnte.
ImschönenAugenblickdasumflorteWissenumseineVergänglich-
300 keit – im Dulden das gelassene »was kannst machen?!« – das ist
ihreFormvonWiderstand;daseigeneElendlöstsichinSelbstironie,
allesPathosinParodieauf,unddieSkepsis istumglänztvonmildem
Schimmeraltersmüder Weisheit.
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Buch Arthur Schnitzler & Hermann Bahr - Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931"
Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Titel
- Arthur Schnitzler & Hermann Bahr
- Untertitel
- Briefwechsel, Aufzeichnungen, Dokumente 1891–1931
- Herausgeber
- Kurt Ifkovits
- Martin Anton Müller
- Verlag
- Wallstein Verlag
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3228-7
- Abmessungen
- 14.6 x 23.4 cm
- Seiten
- 1010
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- 1891 7
- 1892 18
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- 1894 64
- 1895 91
- 1896 115
- 1897 135
- 1898 160
- 1899 167
- 1900 173
- 1901 192
- 1902 222
- 1903 246
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- 1906 371
- 1907 386
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- 1910 433
- 1911 447
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- 1962 610
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