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Kirche selber, und die immer dämmernden Ecken in den großen Stuben der
großen Bauernhöfe, wo die Urgroßmutter oder ein gelähmter Alter saßen,
oder noch zu sitzen schienen, wenn wir sie auch im vergangenen Herbst
begraben hatten und Asternkränze, weiß, lila und rot, auf den Sarg geworfen.
Das Gehaben jener mit den überstarken Gebärden, die nicht mehr da waren,
ging doch zusammen mit dem Gehaben derer, mit denen ich aß und trank und
in den Birnbaum stieg und die Pferde schwemmte und zur Kirche ging, so wie
die alten Geschichten von Räubern, Einsiedlern und Bären zusammengingen
mit der Landschaft, so wie die Legende von der Pfalzgräfin Genovefa in mir
zusammenging mit dem blonden Engelsgesicht der schönen
Fleischhauerstochter Amalie.
Es war alles anders in den alten Bildern als in der Wirklichkeit vor meinen
Augen: aber es klaffte kein Riß dazwischen. Jene alte Welt war frommer,
erhabener, milder, kühner, einsamer. Aber im Wald, in der Sternennacht, in
der Kirche führten Wege zu ihr. Die Geräte waren nicht die gleichen, die
Trachten waren sonderbar und die Gebärden waren über die Wirklichkeit.
Aber ich weiß nicht welches Tiefste im Gehaben, das noch hinter den
Gebärden ist: das Verhältnis zur Natur, daß ich es mit einem solchen dürren
Worte sage, das Verhältnis zum Leben: wieweit es Entgegenstemmen ist und
wieweit Sichfügen, wo Auflehnung hingehört und wo Ergebung, wo
Gleichmut am Platze ist und eine trockene Rede und wo Übermut und
Lustbarkeit: dies Wesentliche, dies Wirkliche hinter dem Alltäglichen, dies
was die schlichten Handlungen des Tages aus dem Menschen heraustreibt,
wie es aus dem Baum sein Rauhes und sein Süßes hervortreibt, Rinde und
Blatt und Apfel – dies, dies hat meine Welt, wie jene Blätter es wissen, das
weiß ich heute und wußte es damals: denn es lag in mir, daß ich das Wirkliche
an etwas in mir messen mußte, und fast bewußtlos maß ich an jener
schreckhaft erhabenen schwarzen Zauberwelt und strich alles an diesem
Probierstein, ob es Gold wäre oder ein schlechter gelblicher Glimmer.
Und vor den Richterstuhl dieser Kindereien, von denen ich im Innersten
nicht loskann, schleppe ich das große Deutschland und die Deutschen des
heutigen Tages, und sehe, daß sie mir nicht bestehen, und komme nicht
darüber hinweg.
Ich meinte, heimzufahren, und für immer, und nun weiß ich nicht, ob ich
bleiben werde. Hättest Du noch Deinen überseeischen Posten und nicht
London, wo ich nicht sein möchte – kann sein, ich käme zu Dir, mein Lieber.
Denn ich habe wenig Menschen auf der Welt – »wenig« ist eine
Beschönigung, ich habe niemanden. Es ist das erstemal eigentlich, daß mir
dies so auf die Seele fällt. Und ich möchte in diesem Deutschland nicht
sterben. ich weiß, ich bin nicht alt und bin nicht krank – aber wo man nicht
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Die Briefe des Zurückgekehrten
- Title
- Die Briefe des Zurückgekehrten
- Author
- Hugo von Hofmannsthal
- Location
- Berlin
- Date
- 1907
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 27
- Keywords
- Briefnovelle
- Categories
- Weiteres Belletristik