Page - 37 - in Der Prozeß
Image of the Page - 37 -
Text of the Page - 37 -
3Kapitel
Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die
Kanzleien
K. wartete während der nächsten Woche von Tag zu Tag auf eine neuerliche
Verständigung, er konnte nicht glauben, daß man seinen Verzicht auf Verhöre
wörtlich genommen hatte, und als die erwartete Verständigung bis
Samstagabend wirklich nicht kam, nahm er an, er sei stillschweigend in das
gleiche Haus für die gleiche Zeit wieder vorgeladen. Er begab sich daher
Sonntags wieder hin, ging diesmal geradewegs über Treppen und Gänge;
einige Leute, die sich seiner erinnerten, grüßten ihn an ihren Türen, aber er
mußte niemanden mehr fragen und kam bald zu der richtigen Tür. Auf sein
Klopfen wurde ihm gleich aufgemacht, und ohne sich weiter nach der
bekannten Frau umzusehen, die bei der Tür stehenblieb, wollte er gleich ins
Nebenzimmer. »Heute ist keine Sitzung«, sagte die Frau. »Warum sollte keine
Sitzung sein?« fragte er und wollte es nicht glauben. Aber die Frau
überzeugte ihn, indem sie die Tür des Nebenzimmers öffnete. Es war wirklich
leer und sah in seiner Leere noch kläglicher aus als am letzten Sonntag. Auf
dem Tisch, der unverändert auf dem Podium stand, lagen einige Bücher.
»Kann ich mir die Bücher anschauen?« fragte K., nicht aus besonderer
Neugierde, sondern nur, um nicht vollständig nutzlos hier gewesen zu sein.
»Nein«, sagte die Frau und schloß wieder die Tür, »das ist nicht erlaubt. Die
Bücher gehören dem Untersuchungsrichter.« »Ach so«, sagte K. und nickte,
»die Bücher sind wohl Gesetzbücher und es gehört zu der Art dieses
Gerichtswesens, daß man nicht nur unschuldig, sondern auch unwissend
verurteilt wird.« »Es wird so sein«, sagte die Frau, die ihn nicht genau
verstanden hatte. »Nun, dann gehe ich wieder«, sagte K. »Soll ich dem
Untersuchungsrichter etwas melden?« fragte die Frau. »Sie kennen ihn?«
fragte K. »Natürlich«, sagte die Frau, »mein Mann ist ja Gerichtsdiener.« Erst
jetzt merkte K., daß das Zimmer, in dem letzthin nur ein Waschbottich
gestanden war, jetzt ein völlig eingerichtetes Wohnzimmer bildete. Die Frau
bemerkte sein Staunen und sagte: »Ja, wir haben hier freie Wohnung, müssen
aber an Sitzungstagen das Zimmer ausräumen. Die Stellung meines Mannes
hat manche Nachteile.« »Ich staune nicht so sehr über das Zimmer«, sagte K.
und blickte sie böse an, »als vielmehr darüber, daß Sie verheiratet sind.«
»Spielen Sie vielleicht auf den Vorfall in der letzten Sitzung an, durch den ich
Ihre Rede störte?« fragte die Frau. »Natürlich«, sagte K., »heute ist es ja
37
back to the
book Der Prozeß"
Der Prozeß
- Title
- Der Prozeß
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155