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Zum Geleit
„Wir gehen nebeneinander her
Und tragen jeder unsere Last
–
Die Last ist ungleich schwer
–
Dich quält ein Leid
–
Und mich das Nimmermehr.“
Durch solche Gedichte erhalten die Tagebücher tiefere Resonanz. Gedichtet hat sie
vor allem in der Straßenbahn, während sie zwischen der Wohnung in Döbling und
der Inneren Stadt pendelte, wo sie in der Albertina mit der Aussortierung von staat-
lichen Kunstsammlungen beschäftigt war. Die Zeitkapsel voll faszinierender Bemer-
kungen über den Kulturbetrieb beleuchtet nicht nur die Sozialgeschichte der Ersten
Republik. Darüber hinaus gibt sie die emotionalen Empfindungen einer Frau von 40
Jahren wieder, deren Reflexionen – etwa zu den Themen Altern, Weiblichkeit, Mut-
terschaft
– den Aufzeichnungen einen eigentümlichen Reiz verleihen.
Wer einen Überblick über das Feld der kulturellen Produktion in der Ersten Ös-
terreichischen Republik gewinnen möchte, kommt bei fast jeder Seite auf seine Kos-
ten. Aufgezeichnet werden Alltagsgespräche, Ferienaufenthalte und Reiseerlebnisse,
Frauenschicksale, Familienfeste und der Rhythmus der Jahreszeiten, Entwicklungen
in der österreichischen Kulturpolitik und der internationalen Kunstgeschichte, der
anschwellende Kulturkampf zwischen ideologischen Gegnern und nicht zuletzt das
Dilemma der deutsch-jüdischen Akkulturation.
Die von konsensualen Geistern wie Hans Tietze und Erica Tietze-Conrat ver-
folgte Versöhnungsstrategie im kulturellen Bereich wurde nicht nur durch Über-
empfindlichkeiten in der Judenfrage durchkreuzt, sondern auch durch eine betont
politische Instrumentalisierung der österreichischen Kultur. Ein Beispiel aus den
Jahren 1924/25 dürfte hier als Nachweis für die Hindernisse genügen, die die Hoff-
nungen dieser vielversprechenden Kulturpolitik schließlich vereitelten. Es war nach
der Stabilisierung des Staatshaushaltes eine Zeit der Hoffnung, symbolisiert durch
die Einführung der Schilling-Währung. Den kulturellen Höhepunkt des Herbstes
stellte das von David Bach geleitete Musik- und Theaterfest der Stadt Wien dar. In
der antisemitischen Presse wurde das Ereignis als ein weiterer Beweis der „Verjudung“
Wiens abgelehnt. Dies war eine boshafte Verdrehung der Tatsachen, denn die erste
Anregung zu dem Fest war von Bundespräsident Michael Hainisch ausgegangen, und
an der Programmgestaltung und Finanzplanung waren nicht nur Größen der Sozi-
aldemokratie wie Karl Seitz, sondern auch Vertreter der bürgerlichen Kulturszene
aktiv beteiligt. An der Oper sollte die neue Saison mit Karl Goldmarks „Die Kö-
nigin von Saba“ eröffnet werden, ein am Hofe König Salomons sich abspielendes
orientalisches Liebesdrama, das seit seiner Wiener Uraufführung im März 1875 zu
einem beliebten Teil des Repertoires zählte. Nun wurde der Leiter der Bundesthe-
ater auf einmal von der Angst befallen, die Wahl dieser „jüdischen Oper“ könnte
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien