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„Der Wiener Vasari“
Entstehungsprozess von Kunstwerken („Nur aus der stärksten Teilnahme wächst das
Verstehen“). Gegenüber seiner Megalomanie steckt sie wie selbstverständlich zurück
(„Wir haben über die Kunst und das Leben gesprochen, über seine Kunst, sein Leben
und mein Leben“). Gelegentlich wird Ehrlich zu einer Art Ersatzpartner. Reisen und
Urlaube werden gemeinsam unternommen. Diese freundschaftliche Nähe erkennt sie
an, indem sie ihm, quasi als seine Agentin, das Arbeiten so leicht wie möglich macht.
Der Auftrag, sich des Künstlers Ehrlich anzunehmen, sollte bis an ihr Lebensende
bleiben. In ihrer Auseinandersetzung mit Kunst oszilliert Erica Tietze-Conrat zwi-
schen dem eigenen schöpferischen Prozess, der empathischen Konfrontierung mit
dem Schaffen anderer, der pragmatischen Einstellung einer Künstlermanagerin und
der distanziert-historisierenden Betrachtung der Kunsthistorikerin.
Wie Ehrlich wäre auch sie gerne ein „Künstler“, „der sich ausschöpft bis aufs letzte,
der sich hingibt bis aufs letzte, der alles auslöscht, Willen und Körper, Erlebtes und
Ersehntes, damit der Weg frei wird für die Empfängnis“.2 Oft frustriert, aber nie
entmutigt, kämpft sie um künstlerische Anerkennung. Hat sie einmal keine ande-
ren Verpflichtungen, beginnt es „in ihr“ zu dichten. Häufig passiert dies während
der Fahrt mit der „Elektrischen“. In diesem Bemühen treibt sie sich bis an den Rand
des „Kollaps“. „Nur aus dem Konflikt kann man schaffen. Dann bricht es heraus.“
Die Ärzte sind wegen ihres „Nervenzustands“ beunruhigt. Die „vielspaltige Beschäf-
tigung“ schade ihr. Ob sie nicht das Dichten aufgeben wolle ? „Ich geh viel spazieren
und arbeite immerfort an mir selbst. Die Tagträume schließe ich einfach aus, sodaß
mein Bewußtsein immer klar bleibt, durch und durch, bis dorthin, wo die ixe sich so
gern zu u’s machen lassen. Ob ich unter diesen Umständen noch werde dichten kön-
nen ? Ich lasse es darauf ankommen. In der Zwischenzeit lese ich wissenschaftliche
Bücher …“ Das Thema „Dichten“ scheint erst abgeschlossen, als ihr einziger Ge-
dichtband, „Abschied“, illustriert mit Grafiken Ehrlichs, erscheint. Die Einbettung
ihrer Lyrik in das Alltagssubstrat spiegelt sich in der chronologischen Abfolge der
Gedichte im Band wider.3
Jede Minute wird dem Tag abgerungen, ein vielfältiges und umfangreiches Ta-
gespensum realisiert, gegen alle Widrigkeiten. Erica Tietze-Conrat ist eine Frau mit
beeindruckend vielen Ressourcen : Gelehrte, Dichterin, Kunstagentin, Ehefrau und
vierfache Mutter – das wären kurz gesagt die Eckpunkte, zwischen denen sich ihr
Leben in jenen Jahren entfaltet. Eine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit gibt es
nicht. Aus der Arbeit, so wie über sie in den Tagebüchern berichtet wird, scheint das
Repetitive, Geistlose, Teil jedes Schaffensprozesses, ausgespart. Und es ist das Schrei-
ben, das alles zusammenhält. Dementsprechend gehen in den Notizen kunsthistori-
sche und künstlerische Aktivitäten, Familienleben, Begegnungen mit Freunden und
Bekannten, Ausflüge und Reisen ineinander über. Nie ist Erica Tietze-Conrat – wie
Arthur Schnitzler in seinen Tagebüchern – nur trockene Chronistin der täglichen
Verrichtungen.4
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien