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„Der Wiener Vasari“
im Rahmen des „Kunstschutzes im Krieg“, auch auf die Zusammensetzung von Erica
Tietze-Conrats Freundes- und Bekanntenkreis Auswirkungen hat. Paul Clemen
logierte im Haus ; die Freunde Guido Kaschnitz, Oswald Kutschera und Hermann
Burg (TB Band II) hatten der „Kunstschutzgruppe“ [sic !] angehört.
Die Aspirationen der Frauen, die Erica Tietze-Conrats Aufzeichnungen bevöl-
kern, gehen weit über jene Beschränkung hinaus, die man aus heutiger Sicht einem
weiblichen Schicksal zuzuschreiben geneigt ist – ob sie nun als Vertreterinnen der
älteren Generation, die noch gänzlich von jeder Erwerbstätigkeit ausgeschlossen ge-
wesen waren, wie Erica Tietze-Conrats Mutter Ida Conrat oder Josefine von Winter,
den privaten und familiären Rahmen aufbrechen, indem sie etwa zum „Mittagstisch“
(dieser bürgerlichen Variante des Salons) laden oder die Geschichte ihres weitver-
zweigten Familienverbands niederschreiben, oder ob sie zu den ersten an der Uni-
versität ausgebildeten Frauen gehören – der Altersgruppe Erica Tietze-Conrats –,
die mit hoher fachlicher Kompetzenz besondere Vielseitigkeit an den Tag legen, um
tatkräftig zu okkupieren, was ihnen zugänglich ist. Dabei bot die Kunstgeschichte
in Forschung und Lehre, aber auch in geschäftlicher und sozialer Hinsicht nicht die
schlechtesten Voraussetzungen. Selbst Alma Mahler, dem absolutistischen „im Bett
Hof halten“ frönend, ist bei dieser Gelegenheit editorisch
– und damit ebenfalls qua-
lifiziert – tätig. Andere Frauen sind Unternehmerinnen (z. B. Hilda Lampl und ihre
Schwester Fritzi Hohenberg, Lätti Gerstl), verfolgen eine künstlerische Laufbahn
(Lilly Steiner, Frieda Salvendy usw.) oder organisieren Mädchenbildung und Volks-
wohlfahrt (Eugenia Schwarzwald). Den Jüngeren, wie Gaby Ehrlich, Ditta Santifaller
oder Liesbeth Askonas (TB Band II), die bereits mit größerer Selbstverständlichkeit
eine akademische Laufbahn angetreten haben, stellen sich bereits neue, unüberwind-
liche politische Hindernisse in den Weg.
Im Umgang mit dem eigenen „Jüdischsein“ – oder dem ihrer Angehörigen – gibt
sich Erica Tietze-Conrat vorsichtig zurückhaltend, gelegentlich subtil ironisch („ein
christlicher Herr“). Ausgeklammert wird das Thema aber nicht. Durch gemeinsame
Lektüre, etwa der „Judenbuche“ von Annette Droste-Hülshoff, werden die Kinder
behutsam in die heikle Problematik eingeführt. Vielleicht lässt sich auch hier am lei-
sen Umgang mit der Frage ihr eigentlicher Stellenwert erkennen. Liest man genau, so
sieht man, dass sie die kolportierten Stereotypen auch bei sich selbst und den ihr Na-
hestehenden sucht. Auch sie, die Selbstbewusste, hat Angst vor den „verräterischen“
Zügen und geht streng ins Gericht mit jedem, der es nicht versteht, den Rahmen zu
wahren („dieser immerhin doch intellektuelle Jude, der sollte die Gedanken [die na-
türlich jeder Künstler von sich haben muß] besser im Zaum halten …“). Selbstüber-
schätzung, provokante Exaltiertheit („Berliner Jüdinnen“), provinzielles Verhaftetsein
in alten Bräuchen („Mann mit Hut“)
– alles unnötige Auffälligkeiten …
Das Ambiente, das mit der Republiksgründung noch Anlass zu Hoffnungen gege-
ben hatte, entwickelte sich schnell hoffnungslos konservativ. Der Kunst das Leben zu
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien