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Tagebuch 1923
laufen und stoßen, Plätze genug.“ Nur wenige mußten tatsächlich stehen u. nur sol-
che, die in späteren Stationen einstiegen. Trotzdem lief alles u. ich fühlte den hin-
reißenden Atem des Hastens. Ich saß am Eck u. Ehrlich visàvis ; wir sprachen nur
wenig miteinander. Er hatte Zahnweh, auch war ihm schwindlig u. ich labte ihn mit
meinem Schwarzen. Sein höchster Höhepunkt ist Schauspielkunst, ja noch mehr
Filmkunst. Da kann ich halt gar nicht mit. Ein Hochwürden aus Kremsmünster,
älterer Mensch, ungewöhnlich soigniert, unterhielt sich lange mit mir. Wurde aber
schließlich sonderbar aggressiv, packte mich am Handgelenk, an den Schultern, um
die Hüften um mir die Aussicht zu zeigen. Ich weiß nicht, ob bewußt oder nur agi-
tatives Temperament. In Salzburg ließ ich Ehrlich weiterfahren u. begab mich in die
Arme von Herrn und Frau Runberg, die mich abholten u. so lieb u. anstrengend wie
immer waren. Rührend ihre Liebe zu Stoffel, jedes Wort von ihm wird ins Erinne-
rungsalbum gelegt
…48
In der Stadt spaziert, wo eine Musikkapelle in d. andre überfließt. Tiefblauer Him-
mel. Ein Blick in die Franziskanerkirche, wo die Chorsäule wie ein Riesenpalmbaum
zur Sonne wächst. Am 3. früh nach Lofer über Reichenhall ; furchtbarer Eindruck
von d. deutschen Geldentwertung. Vom Autobus aus vor d. Botenwirt das Vronerl,
beim Ankommen die Burgel gesehen. Die Buben nachher erst vom Wald heimge-
kehrt. So groß die Freude war, so abspannend auch. Gesteigert durch ein ganz unge-
heures Gewitter gleich nach Tisch. Am Kirchturm gegenüber Wetterläuten, ich bin
dabei eingeschlafen auf ein paar Minuten, so niedergebügelt war ich. Grad während
des Gewitters hat Ehrlich Wohnung gesucht u. etwas über dem Eberlwirt hinauf in
Scheffsnoth gefunden. Er war ebenso abgespannt wie ich, nur durch andre Eindrücke,
nach Lofer gekommen (Autopause mit 4stündigem Warten in der Vorgewittersonne)
nur noch gesteigert durch den starken Eindruck des Amlandeseins, nach langer Zeit
zum erstenmal. Nach d. Nachtmahl ging ich mit ihm auf der Straße spazieren u. sah,
wie er langsam Verhältnis zur Umgebung bekam. Am nächsten Morgen (4.) machte
ich noch im Bett das Gedicht, das mehr meine persönlichen Gefühle für ihn (er
schmilzt mir viel mit d. Stoffel zusammen) faßt, als sonst Qualität hat.49
Du warst zerpflückt von der Reise.
Übervolles Coupé.
Schwindel und Autopanne,
Schwarzer Kaffee
Aus der Flasche. Fluchen,
Kunstgespräche und registrierte Gegend,
Gasthauspreise
Dann
–
Und Wohnungssuchen.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien