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Tagebuch 1923
24.VIII.1923
Ich möchte den ganzen Tag schlafen, alle Nachträge von Lofer hol ich nach. Hab
ein Gedicht angefangen, bin drüber eingeschlafen. Gestern mit F[ritz] Lampl tele-
phoniert, der möchte den Todessprung an S. Fischer schicken, möglichst bald, solang
seine Befürwortung in Berlin frisch im Gedächtnis ist. Der Merkur in München, wie
alle Zeitschriften, eingegangen. Mit Hock gesprochen, er soll mir das M[anu]s[kript]
zurückgeben ; dieser liest es gerade zum Zweitenmal, ist mitten drin u. möchte es
mir Sonntag vormittag bringen, „da es ihn so sehr interessiert“. Wieder eine neue
Blase, die traurig platzen wird. Auch mit Ulmann teleph[oniert] wegen „Dr. Funkes
Sorgen“. „Das ist wirklich ein sehr hübsches Lustspiel, aber ein Ensemblespiel – ich
hab es dreimal daraufhin angeschaut aber nicht möglich eine Starrolle zu machen.
Bei uns an allen 3 Bühnen nur Gäste, die ihre Stücke selbst mitbringen ; wir haben so
schlecht gezahlte Kräfte, daß nie ein anständiges Ensemble herauskommt etc.“ Ich
soll ihn besuchen, er wird schauen, mir einen guten Rat geben zu können. – Ich geb
mir Mühe, all diese Dinge ganz sachlich, ohne Betonung zu referieren.64
25.VIII.
Ich möchte den gewissen „Lieben Gott“ zu einer richtigen tragenden Rolle ausleben
lassen. Vielleicht so, daß ein junges Mädel sich in ihn verliebt u. wirklich an ihn
glaubt
– was ihm den Rest gibt. Der Mensch, der sich ausgeschaltet hat u. nicht mehr
zurück in d. Aktivität kann. Ich hab gar keine innere Muße. Die laufenden Ange-
legenheiten, Geldangst. Unsre ganzen deutschen Einnahmen, c. die Hälfte unsres
Budgets, verpufft. Wir werden auch wohl nicht nach Paris fahren können, Anderl
braucht Sandalen
…65
Gestern waren wieder die Schweden da, es war recht gemütlich
– u. gleich nach d.
Nachtmahl fuhren sie stadtwärts. Ich stopfe den ganzen Tag Taschentücher
– da kann
ich dabei im Kopf rege sein. Jetzt hat Rapaport telephoniert
– er will mir Sachen zei-
gen kommen. Er sehnt sich so nach Ehrlich, mit ihm zusammen hat er viel intensiver
arbeiten können. – Er kam … Seine Sachen sind mir wie immer eine Verlegenheit.
Sehr viel Begabung – aber ich sehe nicht den Weg, wie er vom Dilettantismus zum
zuverlässigen Können kommt. Dieses weichliche Herumspielen mit dem Selbstmord,
der immer als letzte Aushilfe bleibt, ist mir zuwider. Überhaupt die ganze Süßlichkeit
des Menschen
…66
26.VIII.
Der „Straßenmusikant“ und „Sie ist die Jüngste“ als Feuilleton in d. Arbeiterzeitung.
Nachmittag langes Gespräch mit Hock, der mir jedes dramatische Talent abspricht,
der Todessprung nur als Novelle geeignet, ich solle meine Begabung ins Epische ein-
strömen lassen. Abends die Schweden zum letztenmal, ich abgespannt zum Umfal-
len.67
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien