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Tagebuch 1923
ins Tiefste erschüttert, kann gar nicht hindenken – so ein Jammer. Gerade sank ein
Hauptast hin u. an meinem Schreibtisch wird es ganz hell. So findet man bei jedem
Schritt Dinge, die sich nicht wiedergutmachen lassen. Wir haben jetzt sehr enge fi-
nanzielle Verhältnisse, da wir gar keine Einnahmen aus Deutschland haben. Seit 3
Tagen wieder die Butter im Haushalt gestrichen.
19.[X.]
Gestern erster Kurs bei Halles. Frau Jaray tut nicht mit, dafür eine Frau Lederer, die
eine der 10 Radiererinnen (Mendl) war u. in ihrer Geschmacksrichtung auf jenem
Punkt stehen geblieben ist (übrigens noch mit d. Verschärfung seit 15 Jahren nicht
mehr gearbeitet zu haben). Mir ist die Stunde eine Qual u. ich bekam eine Stimm-
bänderlähmung am Ende, wie immer, wenn mich etwas während des Vortrages irri-
tiert. Philippi gesprochen – er reicht heute seine Crematoriumentwürfe ein. Abends
Hans in d. Universität abgeholt, Frau Dr. Kurth erzählte von d. Depressionen des
Kris. Gewiß in Folge der Grippe u. dann überhaupt ein kränklicher Bursch. Kommt
sich neben, d. h. unter Hermann unnötig vor (wehrt sich gegen die dortige niederdrü-
ckende Atmosphäre), wacht auf und weint etc. Seine Mutter verzweifelt. Hans wird
ihm eine bestimmte Arbeit übertragen
…
Heut vormittag die Novelle vom Lieben Gott begonnen, 4 Seiten geschrieben,
dann anderthalb Stunden mit d. Vroni spazieren gewesen u. a. beim Grab Mahlers.
Nachmittag „Rembrandt als Erzieher“ gelesen, mit viel Freude und Aphorismen von
Goethe über Kunst.101
20.X.1923
Ich habe fast täglich schwere Depressionen. Ganz ohne Grund d. h. mit einem an den
Haaren herbeigezogenen Anlaß. Mir tut es auch des Hans’ wegen weh, den ich damit
quäle. Gestern abends war Philomena Blaschitz hier. Sie ist jetzt Leiterin des Kon-
servatoriums der Ursulinerinnen in d. Johannesgasse u. reist 2x im Monat auf 3 Tage
nach Salzburg zu den dortigen Ursulinerinnen, wo sie ihre Kurse in konzentrierten
Foren weiter führt. Sie hat mir eigentlich einen starken Eindruck gemacht mit ihrer
Fähigkeit und ihren 100 % roten Blutkörperchen. Und noch eine eigenartige Gabe
besitzt sie : Fiebernde durch Handhalten zu entfiebern. Sie fangen zu schwitzen an u.
schlafen ruhig ein
…102
Heut vormittag in großer Ruhe wieder 1 ½ Seiten an meiner Novelle geschrie-
ben. Nicht mehr, weil mich Therese zum Kopfwaschen abholte. Heut ist erst am
Nachmittag die Sonne durch den Herbstnebel durchgebrochen. Man ahnt nur den
blauen Himmel. Stoffel ist heut mit seiner Schule in Stockerau : Flugwochenausflug.
Gestern um 9 kam noch ein Expreßrohrpostbrief vom Rat Berl, der uns zur Urne
für die bürgerl[ich]-demokratische Partei drängen möchte. Da aber der Oberbaurat
Leopold Bauer Kandidat ist, den wir als reaktionäres Schadentier kennen u. dessen
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien