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Tagebuch 1923
3.XI.
Vormittag mit Vroni u. Anderl bei Ehrlich im Atelier, Vroni brav „gestanden“, ich bis
zur Heiserkeit ein Märchen erzählt. Therese holte d. Kinder zu Mama ab, ich allein
zu den „Künstlerinnen“, die im Hagenbund kollektiv die Wände pflastern. Trostlos.
Die alten und die neuen. Ein paar nette Aquarelle von d. Zirner. Habe „die Mütter“
gesprochen. Aus d. Baronin Krauß weht das ganze ärarische Österreich her. Brav aber
überlebt. So viele haben mich gekannt
– mir war schon ganz unheimlich, wie lang ich
schon in d. Betrieb drinnen stecke. Bei Mama oben, die durch einen Brief aus Mün-
chen noch verstimmter ist als gewöhnlich, meine Eierlein verzehrt. Dann zur Funke,
die aber Portraitsitzung hatte, durch die Stadt mit einer Melodie im Ohr zur Würthle
geschlendert.118
Wir gehen nebeneinander her
Und tragen jeder unsre Last
–
Die Last ist ungleich schwer
–
Dich quält ein Leid
–
Und mich das Nimmermehr.
Zeichnungen von französ[ischen] Kubisten, Purrmann und eine besonders schöne
(verkaufte) von C. Hofer. Um ¾ 5 bei Berls gejausnet, Projekt der Haustheaterbe-
lebung (Kiesler !) vorgeschlagen. Einigen Anklang gefunden. Zuhause Laskes, mit
denen Hans besprach, dasselbe mit ihnen wie mit Ehrlich zu versuchen.119
4.XI.
Herrliches Wetter. Mit Hans u. den Kindern (ohne Überkleider) oben am Burgstall
hängengebliebene Weintrauben gepflückt und gegessen, auch Hagebutten
– alles sehr
sauer. Nach Tisch im Kirchenkonzert Mozart „Requiem“ Heiligenstätt[er] Pfarrkir-
che. Viele abgerissene Sätze, zwischen denen die heilige Handlung ausfällt
– das stört.
Wie ändern ? Stellenweise tief erschüttert – Zumeist nicht aufgepaßt. Hans mag die
Novelle „Der arme Liebe Gott“ nicht, er sagt, sie ist ganz trocken erfunden – u. hat
recht. Ich schreib sehr ungern Novellen. Gab sie wieder in die Schreibtischlade.120
5.XI.
Heute kamen die Stücke von Döblin zurück : „Meine Dame, vielen Dank für Ihre
Zusendung. Der Kleistpreis ist schon im September von mir vergeben worden. Viel-
leicht fragen Sie nächstes Jahr bei dem betr[effenden] Preisrichter an. Ihr sehr er-
gebener Dr. Döblin.“ Sehr deprimiert. Obwohl ich das schon gewußt hatte, doch
auf einen Rat – einen Weg gewartet. Gelegentlich fällt mir doch das viele Hinun-
terschlucken schon sehr schwer – Vroni mit Therese alleine zu Ehrlich geschickt.
Gerade teleph[onierte] der Generalkommissar Dr. Zimmermann, daß Hans ihm d.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien