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Tagebuch 1923
Jahren – von uns also 3, von Baron Löwenstein 7 (im ganzen hat er 8) – mit d. El-
tern eingeladen. Frau Zeissl Anderle nach 18 Jahren wieder gesehen. Sie war damals
meine Schülerin. „Sie wissen gar nicht, mit welcher Verehrung ich heute noch an
ihnen hänge, sogar meine Kinder kennen sie schon.“ Drei ganz kleine Mäderln, sehr
schlecht beinander – die Mutter auch. Zuerst kam eine berufliche Märchentante u.
erzählte Dornröschen u. Frau Holle zu bunten Projektionsbildern (Frau Kienzel).
Dann las die uralte Frau Willbrandt-Baudens den Tannenbaum von Andersen vor,
dann haben Buben einen acapella-Chor von Mendelsohn gesungen, einer dann solo
die Uhr von Löwe – dann Buxbaumquartett einen entzückenden Mozart gespielt –
dann der Minister eine sehr menschliche Rede gehalten, die darin gipfelte, daß die
Kinder ihm vor d. Weihnachtsbaum versprechen sollen, immer, auch wenn sie groß
sind, auch wenn Berg u. Tal dazwischen liegt, zu Weihnachten bei den Eltern zu
sein
– dann wurde ein großer Baum enthüllt und wieder von d. Buben gesungen (na-
tür l[ich] „Stille Nacht“), dann sagte ein degagierter Bub ein Gelegenheitsdankgedicht
(hausgemacht) auf – dann endlich Bescherung, (jedes ein Buch mit ministerieller
Widmung) und wirklich sehr üppige Jause. Die Kinder waren sehr befriedigt und
angeregt, ich sehr abgespannt weil ich jedesmal, wenn dunkel gemacht wurde, vor
Rührung heulte.
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Abendabschluß Vortrag von Glück über den neuen Dürer u. Velasquez. Zu ers-
terem hat er alles erzählt, was er über Dürer bis 1507 weiß, ebenso viel richtiges wie
falsches u. hat in der Hypothese gegipfelt, daß das neue Bild Dürers erste veneziani-
sche Geliebte ist (eine Hypothese, die m[eines] W[issens] auf einen Witz Wildes zu-
rückgeht). Sein Vortrag ist eigentlich eine Vorlesung. Da das Manuskript stellenweise
schlecht getippt war, nicht einmal eine flüssige Vorlesung. Es war ziemlich leer. Ers-
tens so kurz vor d. Feiertagen und dann
– man kennt ihn schon als wenig blendenden
Redner.
23.XII.
Freitag abends waren Kaschnitz, Ehrlich, Alf u. Frau da – wir haben Christbaum-
sachen gebunden und dazu 2 Flaschen Wein getrunken von der Spende des Herrn
Wolf, die am selben Tag als Weihnachtsspende eingelaufen war. Vorher war d. Ver-
leger Haybach hier, der sich im Lauf d. Jänner entschließen will, ob er das Buch mit
Ehrlich u. mir macht oder nicht. Er stellte sich als der Gatte einer jungen Frau dar,
die ich während des Krieges bei Zweybrück kennen gelernt hatte ; er war damals (5
Jahre lang) in sibirischer Gefangenschaft u. die Frau ein selten ernster u. ehrlicher
Mensch in Sorge, ob sie sich nicht in diesen Jahren des Lebens über d. Mann hinaus
entwickeln würde, was zu Entfremdung führen müsste. Samstag noch Besorgungen
gemacht
– die letzten
–, noch Stunde gehalten, Hans hat mich abgeholt
– im Micha-
eler Durchhaus eine Bettlerin mit einem Kind im Arm, sie hat d. Kind immer ge-
zwickt, daß es laut aufbrüllte, dann
– als d. Passanten Geld spendeten
– es getröstet u.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien