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Tagebuch 1924
mal ganz anders. Meine Nerven rissen mich so herum, daß es fast wie ein Schüttel-
frost war. Erst beim Nachmahl wurde ich ganz ruhig u. habe dann zum erstenmal
etwas ausgiebiger geschlafen. Ehrlich war mit d. Zeichnungen nicht zufrieden :
immer ist d. Kopf u. d. Ausdruck gut, aber der Körper fehlt, weil er ihn nicht ver-
steht. Im Kleid nicht versteht. Am nächsten Tag schneite es so stark, daß er nicht
malen gehen konnte u. mich bat, doch erst am Nachmittag nach Wien zu fahren,
er wollte auch versuchen, die Zeichnungen auszubessern. Ich machte ihm den Vor-
schlag, ihm zu einer Aktzeichnung zu sitzen. Er war sehr froh darüber, es sollte nur
eine Arbeitszeichnung sein, die er dann zerreißen
wollte. Mir war dieser Entschluß sonderbar leicht u.
selbstverständlich, da ich die Kunst als eine heilige
u. meinen Körper, der weiß Gott nicht mehr schön
ist, als eine unerotische Angelegenheit ansehe. Wir
gingen Vormittag spazieren, aßen dann im Hotel u.
gingen an die Arbeit. Während er mir den Rücken
kehrend am Ofen saß, öffnete ich mein Kleid und
rutschte aus den Ärmeln meiner verschiedentlichen
Trikots heraus. „Sind sie fertig ?“ – „Schon lange.“
Dann aber geschah etwas Sonderbares. Ehrlich sagte,
er wisse nicht, was in ihm vorgehe, er könne sich aber
nicht entschließen mich anzusehen oder zu zeichnen.
Wenn es für ihn nur eine Angelegenheit des Stiftes
sei, so bedeute es für den Hans so viel mehr u. er
würde dem Hans gegenüber eine Schuld auf sich la-
den, wenn er das nicht anerkenne. Er war stolz auf
den Verzicht – umso mehr stolz, je größer er ihn ein-
schätzte. „Ich stelle seit einiger Zeit den la vie pour
l’art-Standpunkt zu hoch – daß ich heute so handeln
konnte, zeigte mir, daß ich auf dem Weg der Besse-
rung bin.“
– Ich bat ihn jene stille Märchenzeichnung,
die er in Breitenstein von mir gemacht hatte, als sein unverkäufliches Eigentum zu
behalten u. bat ihn, ihm eine Widmung darauf schreiben zu dürfen. Schrieb darauf :
„Dem Freund vom Hans – die tief dankbare Frau.“ Ehrlich dankte mir für die Wid-
mung : „Jetzt ist die Zeichnung noch einmal so schön.“ Dann zeichnete er mich noch
einmal im Stuhl sitzend „ganz einfach“, was ihm nie gelungen war u. es gelang wun-
derbar rein und schlicht. Schließlich gingen wir spazieren u. auf d. Leihbibliothek, wo
wir mit Mühe ein halbwegs einladendes Buch fanden, mit dem er sich den einsamen
Abend zerstreuen könne. Zur Bahn hinauf und ich nachhaus. Ungeheiztes Coupé,
Verspätung, halb 11 erst zuhaus. Hans bei Taussigs, von wo er um eins mit d. Auto
des Vizebürgerm[eisters] Emmerling heim kam. Da erzählte ich ihm alles, was ich
Abb. 34 : „Der Körper fehlt, weil er ihn nicht
versteht.“ – Georg Ehrlich, Erica Tietze-Conrat,
Halbporträt im Hemd und mit offenen Haaren,
1924.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien