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Tagebuch 1924
vorübergehend geweckt. Er hatte nach der Universitätsvorlesung (6–7) eine in d.
Urania (7½–8½) und dann repräsentatives Erscheinen bei d. Antiquitätenhändlern
im Kursalon. Künstlervorträge wurden in die langen Eßpausen hineinserviert ; erst
„hochstehendes“ aus den großen Opern, dann kleinere Genüsse, Kouplets aus Max u.
Moriz u. ähnl[iches,] Kieslinger machte philosoph[ische] Bemerkungen : was sich die
späteren Jahrhunderte von unserer Zeit denken werden, wenn sie einmal ein solches
Kouplet ausgraben werden. Hans antwortete lakonisch : „Das Richtige“.
1. März
Und draußen liegt immer noch der starre Schnee. Hans’ Geburtstag feiern wir erst
morgen. Gestern war ich beim Ehrlich (der in der Nacht angekommen war) in der
Wohnung, bevor ich in die Stadt fuhr. Hab’ ihm ein Geburtstagsgeschenk (eine
Wertheimkasse) mitgebracht und mir die Zeichnungen angeschaut, die er in Berlin
gemacht hat. Zwei neue Stars sind in sein Leben getreten, die Gerda Müller (vom
Staatstheater) und die Asta Nielsen (vom Film). Er hat wundervolle Zeichnungen
von ihnen gemacht, von Gerda Müller auch eine für eine Lithographie. Zwei Ra-
dierungen sind noch nicht ganz fertig. Sonst noch eine alte Dame, Baronin Uxküll,
ein Auftrag, der nicht angenommen wurde und eine ganz grausliche Person, echte
Berliner Jüdin mit so und so vielen Ehescheidungen, Verhältnissen etc. u. verliert sich
doch nie selbst dabei – also ganz wertlos. Ehrlich hat sehr viel erzählt, er ist sehr er-
frischt zurückgekommen. Hat mit den Sachen, die er mitgebracht hat, ungeheuer viel
Erfolg gehabt. Cassirer hat ihn zu einer Kollektivausstellung eingeladen.
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Am Nachmittag war eine mißlungene Generalprobe zum Geburtstagsstück für
d. Hans, da aber die Kinder mehr oder weniger im Bett lagen, war’s nicht das rich-
tige. (Nur ganz kleine Krankheiten, die heute schon behoben sind). Mein Feuille-
ton : Wiener Ausstellungspublikum in der Münchner Allgem[einen] Z[eit]t[un]g ist
ohne Druckfehler und ohne Korrektur geschrieben. Es kommt mir bißchen frech vor.
Nicht frecher als ein paar Ausstellungsbesprechungen, die ich heute hinschicke. Aber
die bodenlos blöde Lobbaderei vom neu gewordenen Roden (in d. Volkszeitung) reizt
mich auf
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3. März
Gestern ein vollbesetzter Tag und die Nacht vorhin auch anstrengend. Kandinsky
hat natürlich den Zug versäumt, der Vortrag mußte abgesagt werden u. wir sind (zu-
sammen mit Ehepaar Maler Mahlau aus Lübeck, mit Markowitz, Merkels, Stemmer,
Dolbin, Frl. Funke, ein Maler Braun u. Hauer ) im Café Museum gewesen. Hauer hat
mir graphisch (auf mein kariertes Papier) die atonale Musik erklärt in allen Zusam-
menhängen („Ich bin so froh, daß ich den Anschluß an die Relativitätslehre gefunden
hab.“) Ich hab nur immer eine Ahnung verstanden, hab aber doch den starken Ein-
druck des Genies davongetragen. „Wissen’s der Mozart u. d. Haydn, dös war’n Kam-
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien