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Tagebuch 1924
Als ich nachhaus kam, war Hans grade ins Bett. Er
hat jetzt neue Verhandlungen mit den Ungarn, die er
ganz ohne Rückendeckung führen muß. Wenn der
Minister nachher nicht einverstanden sein sollte, wird
Hans wieder die Farewellgebärde machen. So geladen
ist er gegen das Amt, daß er jeden Grund schon grei-
fen möchte. Am Abend war er (nicht wie die meisten
gestern bei Wölfflins Dürervortrag sondern) bei ei-
nem Kasperlspiel in den Schwarzwaldschen Schulan-
stalten – es soll sehr nett gewesen sein. Er ging aber
schon nach dem 1. Akt fort.
–59
Heute sang noch der Rosenkavalier in mir und be-
gann sich in ein Gedicht zu fügen
…
Die Post brachte die Kontraktformulare von
Kurt Wolff – also jetzt wird es doch ernst. Ich fuhr
daraufhin stadtwärts, sah mir die zwei nachträglich
eingetroffenen Noldebilder „H[ei]l[i]ge Nacht“ und
„Adam u. Eva“ an. Die sehr stark, aber erschreckend
roh sind. Dann erledigte ich (sehr anstrengend) die
Funke für die Schau ; am besten gefielen mir ihre Zeichnungen, darin hat sie außeror-
dentlich an seelischer Tiefe gewonnen – auch d. Bild von Frau Dolbin ist gut. Dann
Albertina, wo eine Miniaturenausstellung vorbereitet wird. Es macht dort den Ein-
druck eines Tollhauses. Kein Beamter überwacht die östlichen Sammlergestalten. Ich
nahm mir einen Band Courboin nachhaus, um mich wieder ein wenig einzuschauen.60
21.III.1924
Gestern hab ich nach der Hallestunde zwei allerliebste feine Stunden beim alten
Dr. Figdor zugebracht. Er wollte mich gar nicht fortlassen u. zeigte mir immer neue
Sachen u. erzählte mir Geschichten dazu. Er ist so liebenswürdig, aber hat doch so
einen klaren Blick über die Leute u. versteht überall das Wesentlichste, ohne daß
man ihn darauf aufmerksam machen muß. Er will sich gern von Ehrlich zeichnen
lassen, bittet aber, mir das Blatt dann zu Füßen legen zu dürfen. Heut lieg ich im Bett,
eigentlich mehr aus körperlichem Unbehagen als aus faktischem Grund : Ich hab an
meinem „Liedel der Ehebrecherin“, das mir seit Dienstag im Sinn, seit Mittwoch im
Wort, seit Donnerstag im Bleistift liegt, herum gebastelt.
Liedel der Ehebrecherin.
Solang ich auf der Straße bin
–
Im Getriebe mittendrin
–
Abb. 42 : Erica Tietze-Conrat, Der französische
Kupferstich der Renaissance, erschienen 1925 im
Kurt Wolff Verlag.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien