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Tagebuch 1924
anschauen soll. Es ist noch nicht fertig aber die Kraft u. Männlichkeit des großen
Wurfes hat mir einen sehr tiefen Eindruck gemacht. Wenn ich mir das erste Bild von
mir daneben denke, da ist alles drinnen verhaltenes Geheimnis noch. In dem neuen
unumstößliche Offenbarung. Das Bild muß jetzt trocknen ; dann weiter arbeiten. Er
muß durchhalten.
Da fällt mir ein : Am Sonntag war am Nachmittag das Boxmatch (Carpentier)
abgesagt, trotzdem kam Erny, der dieses mit einem Besuch bei uns verbinden wollte,
mit der Paula heraus. Er war sehr lieb u. klagte nur viel über seine Familienverhält-
nisse (Prozeß mit Viktor). Er kaufte zwei Radierun-
gen von G. E. u. wollte Mitglied des Fonds werden.81
1. Mai 1924
Heut war die Preisverteilung d. Stadt Wien u. ich
konnte mit Recht schimpfen, da ich nicht einge-
reicht hatte. Grotesk erschien mir eigentlich der
Preis d. R[ichard] Billinger, dessen Gedichte ich
aus dem Haybachverlag kenne u. mißbillige. Lampl
teleph[onierte] mir, wie er die Preiszuerkennung
an Martina Wied grotesk finde, wenn man meine
Dichtungen kennt u. ließ es nicht gelten, daß ich
ja nicht eingereicht hatte. Gestern nachmittag war
Hanna Gaertner da u. erzählte von ihren Arbeiten
u. Plänen. Im nächsten Jahr soll sie in einem Atelier
arbeiten, das ihre Eltern ihr im Garten bauen wol-
len. Abends war Gaby Ehrlich da mit Dissertations-
schmerzen.82
2. Mai 1924
Gestern teleph[onierte] Tischler, wir sollen zu ihm kommen, er weiß nicht, was er
ausstellen soll, alte Sachen oder das, was er jetzt seit Paris gemalt hat (4 Bilder). Wir
waren nachmittag dort. Ein kleines Bild seiner Frau finde ich ausgezeichnet beson-
ders für ihn, die 3 andern Stilleben weniger, liegen mir halt nicht. Zu farbig, zerfal-
len. Nachher mit Floch u. Rothberger bei der Jause. Tischler ist mit seinem Mäzen
auseinander u. redet sich jetzt ein, wie gut das ist. Er sei schon zu bequem geworden
etc. Rührend ist doch immer diese einfache Psychologie. Heut früh ist Kirstein ein-
getroffen u. in Alfs Zimmer eingezogen. Er ist langatmig, um die Wände hinauf-
zuklettern. Dabei hat man doch immer das Gefühl, daß er nur so lang daherredet,
um die Zeit zu gewinnen, einen daweil zu betakeln*. Ich wollte mir einen Strohhut
* betrügen
Abb. 48 : Erica Tietze-Conrat, Anfang der 1920er-
Jahre.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien