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Tagebuch 1924
lichkeit ekelerregend. Jetzt (gewiß die Nachkriegs-
zeit) sehe ich in seiner Rolle viel mehr das gute, das
höher Strebende, das unterdrückt geknickt ist. Und
das vergeistigt auch ihre Sinnlichkeit. Ein Erlebnis
für lange lange Zeit.
17.V.1924
Der neu eingezogene Nachbar zur linken baut ; das
ist sehr störend, lästiges Geklopfe. Gestern vormittag
war Floch da, hat mir meine Einleitung zu seiner Pa-
lästinamappe gebracht, die ich gleich korrigiert habe,
hat dann adieu gesagt, da er noch gestern nach Paris
gereist ist. Er ist in sehr gehobener Stimmung we-
gen des Erfolgs der Ausstellung. Nachmittag war ich
in Klosterneuburg, wo ich in großer Gemütlichkeit
4 Halle Kursdamen „führte“. Nachher Jause auf der
Stiftskellerterrasse. Im Marmorsaal wurde gerade die
Kunstausstellung, die heute eröffnet werden soll, ge-
hängt. Was ich gesehen habe, ist trostlos. Der schöne
schöne Saal, der sich so öligen Kitsch gefallen lassen
muß. Abends hatte Hans noch einen Akt zu erledi-
gen, den Schreibtisch abzubauen u. das Kofferinventar zu diktieren. G. E. hat ihn an-
gerufen, daß er dennoch mit mir fährt. Mir hat er kein Wort davon gesagt (als er sich
in der Früh nach der Burgel erkundigte). Diese hat heute nur mehr 36°5 Temperatur
–
ich erwarte den Arzt, der wegen des Belages (der gestern noch da war) schauen muß.
Eher laß’ ich die Kinder nicht zusammen.
–
G. E. hat teleph[oniert] : „Wenn ich nicht krank bin, so reise ich mit ihnen am
Donnerstag
…“
–
Heut vormittag war Irma Groß hier, sie ist bald 52 und sieht aus wie 30. Wirklich
ein Wunder. Überhaupt ein feiner und vornehmer Mensch, der es sein ganzes Leben
hindurch mit dem despotischen Mann nicht leicht gehabt hat. Ich hab mich gut mit
ihr gesprochen
…93
Mittag bei Mama, wo ich mich mit Hans zusammentraf, der noch in letzter Mi-
nute furchtbar gehetzt wurde. Vom Buschbeck ein ausgezeichneter Artikel im Tag-
blatt über den „Kunststreit“. Mir war der Abschied vom Hans so schwer. – und ihm
ist er so leicht gefallen
…94
(Gestern abend sag ich zum Stoffel : „Also sag dem Papa jetzt lebwohl, du siehst
ihn nicht mehr –“ Stoffel gibt sich einen Ruck u. tritt zu Hans : „Wie lange hast du
die Absicht zu bleiben ?
– Ich frage wegen meines Taschengeldes.“ Hans sagt : „Etwa
16 Tage.“ – Stoffel : „Also 3 Sonntage. Könnte ich es im vorhinein bekommen ? (Es
Abb. 52 : „weit über das Stück hinaus
Persönlichkeit“ – Elisabeth Bergner in Strindbergs
„Fräulein Julie“, 1924.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien