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Tagebuch 1924
nicht mehr den aufsteigenden Reiz für d. Miterlebenden besitzt. Es geht ihm genau
so, gestand er mir
…
19.VIII.
Ich habe für den Hans einen Artikel über Wiener Maler d. Gegenwart, eigentlich
über OK, geschrieben für L’Art d’aujourd’hui ; etwa 5 Seiten lang. Gestern war ich
beim Hermann (wegen Emails) u. hab mit ihm die Uraniakurse besprochen u. 2 Ein-
zelvorträge über Wiener Maler u. Wiener Graphiker, die Hans u. ich zusammen hal-
ten wollen. Hermann ist beängstigend senil ; mir tun die jungen Leute leid, die sich
so einen Chef gefallen lassen müssen. Hans sagt : „Hermann ist ein Spezialist ; er ist
spezialisiert auf allen Gebieten ; das Wesen des Spezialisten liegt nicht in dem, wo-
rin er Spezialist ist, sondern daß er keinen Zusammenhang hat, daß er alle Gebiete
„auseinanderhält“. In der Albertina hab ich mir Nicoletto da Modena angeschaut
(auf Anraten des Hans) u. in der Tat Zusammenhänge mit d. Lyoner Stecherschule
(Komposit[ion] u. stilist[isch]) gefunden. Im Hagenbund war Jury für die (Repräsen-
tative) Herbstausstellung im Künstlerhaus.114
20.VIII.
Es soll alles genommen worden sein, sodaß die Ausstell[ung] jämmerlich werden
wird. Gestern nachmittag mit Dehio, Pollatschek, Buschbeck, Hans unter Füh-
rung des Prof. Berthold Czernik in Klosterneuburg. Herrlich schön oder besser : ein
kunsthist[orischer] Hochgenuß – aber sehr sehr anstrengend. Heute den ganzen Tag
mit den ersten 16 Blaukopien meiner französ[ischen] Graphik herumgespielt.115
22.VIII.
Am Mittwoch nachmittag eine klare Stunde, die schön war. Abends Planiscig mit
Frau ; etwas langweilig, sie besonders ausgesprochen Untergebenengattin. Zu blöd !
Eine hübsche Frau, die in weniger sie hemmender Umgebung gewiß sehr nett ist.
Gestern den ganzen Tag wieder kunstgeschichtlich herumgespielt ; an einem Gedan-
ken über die Bedeutung (vor allem der reproduktiven) Graphik (durch den Schulgang,
Ateliersammlungen etc.) für d. monumentalen Schöpfungen gearbeitet. Die Phantasie
kann hemmungslos für d. ersten Concetto aus bereitstehenden Lösungen schöpfen.
Aus meiner Sehnsucht nach den Kindern wurde gestern beim abendlichen Spa-
zierganz ein Wiegenlied :
Mußt schlafen
–
Die kleinen Schiffe stehen
Still im Hafen
–
Nur ihre Segel blähen
Sich im blauen Raum
–
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien