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Tagebuch 1924
Schneeberge mit dem Montblanc als dem letzten. Ziegen eine ganze Herde, Buben
wie junge Satyrkinder, ihren Dialekt bellend mit männlich tiefgelegten Stimmen, in
Sprüngen den Berg hinauf. Fast über mich purzelnd, als wär ich unsichtbar
– oder sie.
Am nächsten Morgen ins Museum, gute modernste Galerie, da der Direktor
ein Schwager eines dieser Maler ist. Um 12 sollten wir wegfahren, hatten aber eine
Stunde Verspätung, sodaß wir annahmen, den Anschluß an den Express Paris-Mar-
seille in Valence versäumt zu haben. Dieser aber war sonderbarer Weise nicht schon
½ Stunde weg, sondern kam erst nach einer weiteren ¼ Stunde in Valence an, sodaß
wir über alle Erwartung doch noch bei Tageslicht nach Orange kamen. Bleierne Ge-
witterluft, die weißstämmigen Platanen steigen gespenstisch aus d. Straßenpflaster.
Triumphbogen, großartig erst wenn man dicht davor, sonst als Vedute unbedeutend.
Mitten in der Stadt das antike Theater ; die gerade Bühnenrückwand ungegliedert
riesengroß gegen einen Platz gestellt, die Sitzreihen im Felsterrain ; das Oval unten
–
ein See ! Überschwemmung vom letzten Mittwoch. Phantastisch in dem unheimli-
chen Licht. Wir gehen zur Bahn, es ist gegen sechs, ½ 7, unser Zug soll erst um 10
abgehen – aber siehe da, der frühere fährt gerade ein, er hat nur 2 Stunden Verspä-
tung u. wir kommen zur Nachtmahlzeit nach Avignon. Hôtel Grillon. Über unsere
Verhältnisse vornehm u. teuer. Wasserleitung im Zimmer. Platzregen, Kälteeinbruch,
die Kälte hält heut d. ganzen Tag an. Kirchenbesuch, dann Papstschloß (stark restau-
riert), ohne Loignon imponierend ; der Dom mit wunderbarer Lichtführung in den
gewaltigen Formen. Museum Calvet (Katalog gekauft), eine gallische Skulptur, Löwe
Menschenfressend, antike Reliefs, schönes Glas, zumeist unbedeutende Bilder, die
paar guten Stücke in d. Masse verschwindend. Spaziergang hinüber nach Villeneuve,
das Philipp d. Schöne als Gegenfestung gegen d. aufblühende Avignon angelegt hat.
Von der durch eine Insel in 2 Arme gegabelten Rhone getrennt, liegen die beiden
Burgenstädte. Villeneuve war riesengroß, jetzt wohnen nur 2000 Leute dort, haben
sich irgendwie in den Gemäuern einquartiert. Trümmer einer ungeheuren Großartig-
keit, wie wenn eine Peterskirche zertrümmert wäre. Zurück vor einem aufziehendem
Gewitter (violett, schwefelgelb, rhoneabwärts idyllisch blau) schnell die Stunde wegs,
auf die Gefahr hin naß zu werden
– wann werden wir wieder es sehen ? ! Noch einmal
den Eindruck aufgenommen
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3. Oktober 1924
Heut ist Burgls Geburtstag. Gestern sind wir nach Carpentras gefahren, der Ort ist
ganz nett gelegen, von der Bastei schöner Blick auf den Mont Ventoux. Damit hatten
wir die Spuren Petrarcas betreten. Wir aßen […] u. fuhren mit d. üblichen Verspä-
tung nach Isle sur Sorgue, um mit d. Autobus in d. Schlucht Vaucluse zu gelangen –
aber der Autobus ging nicht (1. Okt[ober] Saisonschluß) u. wir nahmen ein Taxi. Am
Ausfluß ins Tal Papierfabriken. Kalkfelsen ungeheuer hoch immer näher, enger um
die Wasserfälle. Oben dann in den Steilwänden ein ganz stilles, vielleicht stehendes
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien