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Tagebuch 1925
Entgegenweht
–
so find ich dich und dich,
Wenn ich entlang
Den Sommerwiesen geh
…
Gestern abends bei Steiners – zum erstenmal seit dem Sommer. Bei der Rückfahrt
auch auf der neuen elektrischen Stadtbahn nichts wie Ärger (unnötige Verspätungen,
sodaß wir die letzte Elektr[ische] versäumten). Dazu Bäckerstreik, Beamtenstreik in
Sicht. Hans sehr geärgert, möchte am liebsten schon am 1. Dezember austreten, der
Präsidialist, mit dem er es besprechen muß, nie zu erreichen. Hans’ Reise in Deutsch-
land ist sehr gut verlaufen – er hat überall mit größtem Erfolg gesprochen, alles hat
geklappt. Aus Bonn hat er eine schöne Pirandelloanekdote mitgebracht ; P[irandello]
gastierte vor kurzem in Bonn mit einer Truppe ; er hatte dort vor c. 30 Jahren als jun-
ger Mensch studiert. Ein Kommilitone schickt ihm eine Photogr[aphie] die damals
von ihm aufgenommen wurde u. die P[irandello] dem Freund mit einer ital[ienischen]
Widmung geschenkt hatte ; auf der Rückseite aber stand auf Deutsch von P[irandello]
geschrieben : „Sieh mir ins Gesicht – Bin ich’s, bin ich’s nicht.“ Also das zentrale
Problem seiner Dramen hat ihn schon damals beschäftigt !
–
Ich erlebe innerlich viel, mag aber nicht schreiben. Heute ist Lili auf 2 Tage ange-
kommen
…
Bei mir Köchinnensuche bez[iehungsweise] -wechsel. Der Bub ist seit dem 2. in
Rekawinkel – da hab ich jetzt freie Hand. Ich halte diese Pöbelhaftigkeit nicht aus,
sie brüllt mit mir, daß ich Herzklopfen bekomme
…63
8.XI.25
Drei ½ Tage war Lili in Wien. Ehrlich hat Mama gezeichnet, aber leider für Famili-
enzwecke unmöglich, ganz greisenhaftes Armhascherl, das fanatisch wie eine Wahn-
sinnige drauflos strickt. Thomas Schramek war Donnerstag von 10 bis ½ 2 bei mir ;
ich glaube, er hat keine Geheimnisse mehr vor mir ; das wenige das vielleicht noch
geblieben war, haben dann seine Dichtungen, die er mir dagelassen hat, noch gelüftet.
Gestern abends mit Hans und Stoffel bei Lampls ; dort furchtbar viel Leute, darunter
auch Gerda Seitz, die mir Georg (mit Anlauf) vorstellte. Sie würde mich der äußeren
Erscheinung nach sicher stark reizen, wenn ich sie mir nicht im Zusammenhang mit
G. E. denken würde, zu dem sie mir nicht recht zu passen scheint. Ich seh zu wenig
Güte in dem Gesicht. Aber vielleicht täuscht nur der erste Eindruck. Auf Georgs
Radierung schaut sie ganz anders, viel kindlicher u. zutraulicher aus … Stoffel hat
sich musterhaft benommen u. mich wacker eingetanzt. Vor der Tanzerei waren wir
bei Boris Godunow, das eine großartige Sache ist – vor allem die Chöre ! In den
Zwischenpausen dieser ohnedies kaleidoskopartig vorüberziehenden Ereignisse hat
mir Hans die Ereignisse seines Tages erzählt, die ähnlich bunt u. überraschend wa-
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien