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Tagebuch 1926
nen konnte. Auch hier gran F[i]esta. Die scharlachro-
ten Mäntel der Geistlichkeit in dem ins Längsschiff
hinein gebauten Gestühl flammen wie Höllenglut,
denn jeder der Herren hat ein Licht bei seinem
Sitz, das ihm das Buch beleuchtet. In den Kapellen
sitzen im dunklen Geheimnis der Beichtstühle die
Pretis und lassen die Scharlachroten Mäntel wieder
aufleuchten, wenn das Beichtkind sie verläßt. Dann
sitzen sie in ihrem Gehäuse, breit und raumfüllend
und ihre fetten Lippen zappeln die Gebete aus dem
Buch herunter, das sie mit beiden Händen halten. Ein
Knacken und die Vision verschwindet, sie haben die
Elektrizität abgedreht, ein Beichtkind ist hineingetre-
ten.
24.IV.26
Gestern hab ich den Hans allein zum Bahnhof gehen
lassen, das Kilometerheft abholen. Der Beamte gab
ihm gleich um 2½ Peseten zu wenig heraus, er zog
sich das Trinkgeld für die Ausfertigung ab und schüt-
telte Hans die Hand
…15
Dann fuhren wir durch die ganze Stadt per Tram, wieder per Tram und schließlich
Funicular auf den Tibidabo, den Aussichtsberg im Osten der Stadt. Bei einer Um-
steigestelle wurden wir von den ersten Zigeunerinnen angebettelt. Großgewachsene
Weiber, denen das schlichte lange Haar um die schlanken braunen Gesichter hing,
eine Redesuada, die Angst macht
– ebenso wie die gierigen Affenarme, die nackt aus
den umgehängten Tüchern greifen. Den Berg hinauf fährt man durch das neugebaute
Barcelona, Häuser wie Filmbauten, ein Lunapark – so unwahrscheinlich unbegrenzt
in der Phantasie wirkt dieser „neukatalonische“ Stil. Oben war es erst so kalt, daß wir
uns mit einer kurzen Rundsicht auf den Steinhaufen unten und das Meer am Saum
begnügen wollten. Dann aber liefen wir erst zur Erwärmung, dann zum Genuß den
Berg hinunter und hinunter (zur Rabassada ein Hôtel). Alles noch zu, vorsaisonmä-
ßig. Schließlich kein Haus mehr, nur Blick ins Grüne, weite Hänge, Hügel und Berge
gegen Norden. Es war wie der Sommerwald in der Gegend um Wien nach einem
Regen, so tiefgrün u. frisch
– wenn man aber näher zusah, so waren es perennierende
Sträucher, dickblättrig, lederlackiert. Die Bäume Zypressen. Die Sonne ging in einer
orangenfarbenen Wolke unter, die Baumstämme wurden blau und grau, endlich, wie
wir wieder oben waren, um einzusteigen, erblühten die Lichter der Nacht unten in
den Straßen und weit weg die Häfen lagen als Licht umsäumte dunkle Tücher darin.
Beim Hinunterfahren hatten wir die breiten Schirme der Pinien erst unter uns und
Abb. 74 : Kloster Sant Pau del Camp.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien