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Tagebuch 1926
den Schlüssel hat, spazieren war, durften nicht in die Kirche, weil ich keine Mantilla
hatte. Ich musste mir mein schwarzes Fransentuch um den Kopf drapieren
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In der Kathedrale haben sie nicht bis 10 – wie es der Baedeker in Aussicht ge-
stellt – sondern bis 11 Chor gesungen und auch nachher mussten wir die Bildbe-
trachtung immer wieder unterbrechen u. vor irgendeinem pompös daherwehenden
Preti oder Arzobispo die Reverenz machen. Ja, es ist ganz anders hier als in Italien
…
Nach der Siesta waren wir im richtigen Museum, das z[um] T[eil] in Umstellung
ist. Wir waren glücklich so den einen Teil der vorhandenen Gemälde vorenthalten
bekommen zu haben, der Rest war fast durchaus unerfreulich : Goya ragte wundervoll
aus der übrigen Gleichgültigkeit heraus. Die Galerie gehört zur Akademie u. da wa-
ren auch die Konkurrenzstücke offenbar der letzten Klasse ausgestellt ; Thema : eine
Kohlezeichnung nach der Venus v. Milo, ein modellierter sitzender Akt, eine Gruppe
Ringer, – also nach dem antiken Original, nach dem Lebend-Modell, eine freie Er-
findung – alles noch wie vor 300 Jahren. Beängstigende Fieberträume die „moderne
Malerei“ darunter eine Kollektivsammlung von einem Valencianer. Hans meinte, so
würde es ausgesehen haben, wenn der Casparides damals sein „Œuvre“ (d. h. seine
Ladenhüter) dem Staat hätte schenken dürfen
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Abendausflug nach […], wo wir auch wegen der Schiffsverbindungen uns unter-
richten wollten. Am Strand selbst war mir schon zu kalt, aber etwas weiter drin auf
einem Stein am Weg setzte ich mich nieder und zeichnete, während Hans zu den
Navigazionsagenzien ging. Ich hatte sicher 40 Personen um mich, so eng gedrängt,
dass ich keine Bewegung machen konnte, ohne an einen begeisterten Zuschauer zu
stoßen. Alle Altersstufen, vom Greis zum Säugling, Männer u. Frauen. Es war ein
Höllenlärm. Eine Fliege saß auf der Stirn meines Modells. „Ja zeichnet die Fliege
mit“, jubelten die Leute. Da kam ein großes Sacktuch von der hinteren Reihe nach
vorn ausholend u. wehrte uns beiden die Fliegen ab. Die alte Maria schlug vor Freude
die Hände über den Kopf, als sie sich fertig sah : „Es bonito !“ rief sie immer wieder
und nach ihr drängten sich die Modelle vor. „Warum mich nicht ?“, schrien sie mich
an, wenn ich abwinkte ; die Liebhaber wollten ihre Schönen empfehlen. Ich zeichnete
noch ein Kind und inzwischen haben die Mütter ihre Kinder köstlich frisiert, damit
sie schön wären, wenn die Reihe an sie käme. Aber ich schloß mit „mañana“ und ging
mit Hans davon. Sonderbarer Weise hab ich keine Laus abgekriegt
– aber vom Hans
eine feine rote Nelke, die mir in der Nase duftet, während ich hier schreibe.
29.IV.1926.
Ich sitze schon im Zug in Murcia u. nütze die Zeit aus, bis er fährt. Es ist Abend,
¼ 8, aber man sieht noch ohne Licht. Den ganzen Tag war es kein anderes Licht. Ein
bleischwerer Himmel wie bei uns im August, wenn die geteerten Straßen dampfen.
Am Himmel die Sonnenscheibe bleich wie der Mond. Schon gestern Abend hat uns
Murcia so unheimlich empfangen. Wir hatten den Tag zuerst mit dem erfolglosen
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien